Viel Stoff für Diskussionen
Sachbücher als Weihnachtsgeschenke zahlen sich doppelt aus: Sie liefern Denkanstöße, und danach lässt sich mit den Beschenkten gepflegt über den Inhalt streiten. Die Bücher der Saison liefern dafür besten Anlass.
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Wird der Mensch immer besser?
Gerade in Krisenzeiten wird das Lamento immer lauter, egal wo man hinhört: Alles wird immer schlechter. Harvard-Psychologe Steven Pinker hält dem Datenmaterial aus 200.000 Jahren Menschheitsgeschichte entgegen. Fazit: Noch nie war es global gesehen so unwahrscheinlich wie heute, eines gewaltsamen Todes zu sterben. Pinker weiß, dass seine These neben der täglichen Berichterstattung über sklavenähnliche Arbeitsverhältnisse in Asien, Afrika und Lateinamerika sowie der Gewalt im Nahen Osten obszön wirken muss. Aber er hat gute Argumente - und liefert vortrefflichen Stoff für Diskussionen.
Steven Pinker: Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit. S. Fischer, 1.212 Seiten.
Wahre Verbrechen, erlebt vom „Wire“-Autor
Die Zahl an Gewaltverbrechen sinkt bekanntlich auch in den USA dramatisch, während sie in den 80er und 90er Jahren ihren Höhepunkt erreicht hatte. Und während dieser Zeit hatte David Simon als Polizeireporter ein Jahr lang exklusiv Zugang zu einem Morddezernat in Baltimore. Der spätere Autor der gefeierten Fernsehserie „The Wire“ hat damals auf über 800 Seiten festgehalten, was er im verbrecherischen Großstadtdschungel gemeinsam mit meist zynischen, manchmal aber doch betroffenen Macho-Cops erlebt hat: weit mehr als eine True-Crime-Story - vor allem wegen David Simons unnachahmlichen Tonfalls.
David Simon: Homicide. Kunstmann, 829 Seiten, 25,60 Euro.

ORF.at/Zita Köver
Den Krieg erlebbar machen
Peter Englund hat sich mit „Schönheit und Schrecken“ viel vorgenommen. Er wollte nicht zeigen, „was“ der Erste Weltkrieg war, sondern „wie“ er war. Er recherchierte dazu die Geschichte von 19 Menschen aus unterschiedlichen Ländern, von denen jeder „seinen“ Krieg erlebt hatte. Geschichtsschreibung von unten ist eine nach wie vor vernachlässigte Gattung - was gerade diese gelungenen 700 Seiten zeigen. Wie viel stärker Geschichte wirkt, wenn sie nicht memoriert, sondern nachempfunden wird - hierfür liefert Englund ein Paradebeispiel.
Peter Englund: Schönheit und Schrecken. Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen. Rowohlt Berlin, 697 Seiten, 36 Euro.
Lehrstücke in Sachen Österreich
Der höchst umstrittene Tierschützerprozess entwickelte sich zu einer der größten Skandale der letzten Jahre. Nun darf er als umfassend dokumentiert gelten. Nach Gerald Igor Hauzenbergers Dokumentation „Der Prozess“, die erfolgreich bei der Viennale lief, ist nun Martin Balluchs Buch „Tierschützer. Staatsfeind. In den Fängen von Polizei und Justiz.“ erschienen. Balluch stand im Zentrum der Untersuchung der Behörden. Man mag zu Pelz- und Nutztierhaltung sowie zur Jagd stehen, wie man mag. Seine Schilderung des Umgangs mit ihm und seinen Gesinnungsgenossen wird niemanden kaltlassen.
Martin Balluch: Tierschützer. Staatsfeind. In den Fängen von Polizei und Justiz. Promedia, 271 Seiten, 15,90 Euro.
Biber-Ethik und Klimawandel als Ausrede
Josef H. Reichholf erklärt uns die Natur. Er tut das angenehm unsentimental, fachlich fundiert und mit originellen Fragestellungen („Müll macht nur der Mensch, oder?“), die die Namen der jeweils wenige Seiten langen Kapitel bilden. Dabei verblüfft er auch mit Tabubrüchen, etwa wenn er vom „Klimawandel als perfekte Ausrede“ schreibt, um „das Notwendige nicht zu tun“. Die schöne Ausstattung mit vielen Bildern und Ornamenten ist also nicht der einzige Grund, jemandem dieses Buch unter den Christbaum zu legen.
Josef H. Reichholf: Naturgeschichte(n): Über fitte Blesshühner, Biber mit Migrationshintergrund und warum wir uns die Umwelt im Gleichgewicht wünschen. Albrecht Knaus, 320 Seiten, 20,60 Euro.
Rohstoffe aus dem Großstadtdschungel
Rohstoffe werden knapper und folglich immer teurer. Parallel dazu hinterlässt der Innovationszyklus Berge von Abfällen, die zumeist ungenutzt auf Deponien landen. „Urban Mining“, mit dem sich der Wissenschaftsjournalist Leopold Lukschanderl in seinem gleichnamigen Buch befasst, hat sich zur Aufgabe gemacht, diese „Lagerstätten“ zu lokalisieren und zu erschließen. Die Idee dahinter ist, natürliche Ressourcen möglichst nachhaltig zu nutzen. Mitunter ist es durchaus überraschend, wo diese „Schätze“ liegen.
Leopold Lukschanderl: Urban Mining. Die Stadt als Bergwerk der Zukunft. Sind Mülldeponien die „Goldgruben“ von morgen? Verlag Holzhausen, 136 Seiten, 35,99 Euro
Im Königreich der Subjektivität
Keiner entriss den Journalismus so sehr dem Objektivitätsgebot wie er: Hunter S. Thompson, der „King of Gonzo“, des von ihm selbst erfundenen Egostils. In jedem seiner Artikel spielte auch er selbst eine Rolle. Der Leser konnte das Geschriebene dann selbst einordnen - anstatt sich auf behauptete Objektivität verlassen zu müssen. Bücher wie „Fear and Loathing in Las Vegas“ (verfilmt mit Johnny Depp) feierten den Exzess als Daseinsform. Nun sind einige der aufschlussreichen Interviews mit Thompson in Buchform erschienen; unterhaltsam, freakig, oft klug, manchmal richtig schön blöd.
Hunter S. Thompson: Kingdom of Gonzo. Interviews mit Hunter S. Ghompson. Edition Tiamat, 254 Seiten, 18,50 Euro.
Ende des politischen Laissez-faire-Stils
Der slowenische Philosoph Slavoj Zizek spricht, wie ein Maschinengewehr rattert. Er wirkt bei Interviews wild und ungestüm - und so lesen sich auch seine Bücher, allesamt Streitschriften, in denen es meist um das ganz große Ganze geht. „Die bösen Geister des himmlischen Bereichs - Der linke Kampf um das 21. Jahrhundert“ ist da keine Ausnahme. Augenzwinkernd fordert er eine Rückkehr zum Kommunismus - um gleichzeitig zu erklären, dass dieser Begriff von jeder Dekade neu definiert werden muss. Was er damit meint: ein radikales Ende des politischen Laissez-faire-Stils gegenüber der Wirtschaft.
Slavoj Zizek: Die bösen Geister des himmlischen Bereichs. Der linke Kampf um das 21. Jahrhundert. S. Fischer, 335 Seiten, 23,60 Euro.
Eine neue Moral muss her
Etwas ruhiger als Zizek, aber nicht weniger spannend, geht es Colin Crouch an. Der Autor des vielbeachteten Werks „Postdemokratie“ legt nun mit „Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus“ nach. Er widerspricht der gängigen These, dass der Staat auf dem Rückzug sei und sich nicht gegen Konzerne wehren könne. Vielmehr hätten sich Staaten und Konzerne bewusst zusammengetan, um unter dem Deckmantel des freien Marktes die Mehrheitsbevölkerungen ruhigzustellen. Crouch argumentiert historisch und kommt zum Schluss, dass nur ein Wiedererstarken von Moral die Menschheit aus ihrer Misere retten kann. Und dafür müsse die Zivilgesellschaft sorgen.
Colin Crouch: Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus. Suhrkamp, 248 Seiten, 20,50 Euro.

ORF.at/Zita Köver
Zuerst empören, dann engagieren
Und genau hier kommt Stephane Hessel ins Spiel. Der 94-jährige Diplomat und Lyriker genießt als ehemaliger Resistance-Kämpfer und Überlebender des Konzentrationslagers Buchenwald höchste Glaubwürdigkeit. Er rüttelte vor wenig mehr als einem Jahr die Gesellschaft mit seinem Manifest „Empört Euch“ wach und geht nun mit dem ebenso schmalen Band „Engagiert Euch!“ den nächsten logischen Schritt: „Sich zur Wehr setzen, sich aufzulehnen darf natürlich nicht beim Nachdenken oder Benennen aufhören, sondern muss in Aktion münden.“
Stephane Hessel: Engagiert Euch! Ullstein, 61 Seiten, 4,20 Euro.
Mit geschärftem Blick um die Welt
Gerhard Roth ist einer jener Schriftsteller, die stets sehenden Auges durch die Welt gehen. Das merkt man nicht nur seinen Texten an - längst hat sich Roth auch als Fotograf einen Namen gemacht. Zuletzt war ihm eine Ausstellung im Wien Museum gewidmet. Nun ist ein neuer Band mit Fotografien von ihm erschienen: „Über Land und Meer“. Sein Sinn für Formen, Farben und Licht paart sich hier mit seiner journalistischen Beobachtungsgabe, die seinen Blick auf Reisen um die Welt auf Wesentliches lenkt. Kenner seiner Bücher werden hier einiges wiedererkennen.
Gerhard Roth: Fotografien. Über Land und Meer. Christian Brandstätter Verlag, 304 Seiten, 49,90 Euro.
Mit dem Fahrrad die Welt entdecken
Seit Jahrzehnten, lange vor dem aktuellen Fahrradhype, erkundet David Byrne, Frontman der Talking Heads, mit seinem Klapprad die Welt. Wo auch immer er unterwegs war, vornehmlich auf Konzertreisen, gönnte er sich ausgedehnte Ausfahrten. Seine klugen Beobachtungen notierte er. Nun sind sie in Buchform erschienen. Mit dem Rad zu reisen zwingt dem Fahrer durch das gemächliche Tempo eine eigene Philosophie auf - von ihr ist das Buch durchdrungen.
David Byrne: Bicycle Diaries. S. Fischer, 363 Seiten, 20,60 Euro.
Mit dem Fahrrad durch die Wüste
Ebenfalls ein Fahrradbuch, aber ein ganz anders, hat Rene Rusch geschrieben. „Mitten durch Australien“ gehört der Kategorie „Fahrradporno“ an. Bike-Afficionados werden den Bericht über Ruschs Gewaltakt, einer Süd-Nord-Querung Australiens, mit Begeisterung lesen. Sein Bildband mit einer ausführlichen Tourbeschreibung lässt die Strapazen - und die Faszination -, die ein Trip quer durch die Wüste bedeutet, nachfühlen. Rusch nimmt sich kein Blatt vor den Mund - so eine Tour ist kein Honigschlecken.
Rene Rusch: Mitten durch Australien. Heyn, 176 Seiten, 34 Euro.
Widerstandskämpfer mit Humor
Über zehn Jahre hinweg hat Hans Ulrich Obrist immer wieder Interviews mit Ai Wei Wei geführt. Fünf Gespräche der beiden wurden nun vom Hanser Verlag im Band „Ai Wei Wei spricht“ veröffentlicht. Der Künstler ist längst das Aushängeschild chinesischer Dissidenz. Hier erzählt er über seinen Werdegang, über Fallstricke für Künstler in China und über Möglichkeiten des Widerstandes. In dem Buch finden sich auch zahlreiche Schwarz-Weiß-Fotografien, die Ai Wei Wei und seine Kunst zeigen. Nicht zuletzt wird offenbar, dass er zwar ein ernstes Anliegen vertritt - aber trotzdem viel Humor hat.
Hans Ulrich Obrist: Ai Wei Wei spricht. Hanser, 143 Seiten, 14,90 Euro.
Streitschrift zur Pensionsreform
Mit einem geradezu brutalen Bruch meldet sich Sozialrechtsexperte Theodor Tomandl zu Wort. Seine Frage „Wie sicher sind unsere Pensionen?“ beantwortet er klipp und klar: gar nicht. Zu mutlos seien die Politiker. Mit Zahlen- und Datenmaterial untermauert er seine Forderungen, die einigen sozialen Sprengstoff in sich bergen: später in Pension gehen, grundsätzlich weniger bekommen und vor allem: Pensionen je nach Höhe der gesamten Lohnsumme des Landes bemessen. Soll heißen: Je weniger Junge es gibt, desto weniger bekommen die Alten.
Theodor Tomandl: Wie sicher sind unsere Pensionen? Braumüller, 128 Seiten, 19,90 Euro.

ORF.at/Zita Köver
Neue Herausforderungen für Unternehmen
Wie wird die Welt 2020 aussehen, und welche Herausforderungen kommen auf Unternehmen zu? Diese Frage stellt sich Ulf D. Pose, Managemententwickler und Präsident des Ethikverbandes der Deutschen Wirtschaft, in seinem Buch „Auf zu neuen Ufern“. Pose geht davon aus, dass es in den nächsten Jahren zu einem radikalen Wandel in Wirtschaft, Politik und Wertesystemen kommen wird, der Unternehmen zu einem ebenso radikalen, „evolutiven“ Umdenken zwingen wird. Erfolgreich werden die sein, die die Zukunftsszenarien bereits jetzt erfolgreich vorwegnehmen.
Ulf D. Pose: Auf zu neuen Ufern. Wie Unternehmen ihre Zukunft sichern. Edition Winterwork, 142 Seiten, 11,90 Euro.
Anleitung zum Scheitern
Anschließend an Poses Buch kann man sagen: Und nicht erfolgreich sein werden jene, die sich an die Ratschläge von Christian A. Pongratz halten. Er hat eine unterhaltsame, leicht lesbare Anleitung zum „Betriebsdesaster“ geschrieben. Erstaunlich, wie viel man als Unternehmensgründer bzw. Unternehmer falsch machen kann. Pongratz weiß als Unternehmensberater, wovon er spricht. Und als Wirtschaftskabarettist, wie man es so tut, dass die Leser etwas mitnehmen. Man darf einfach nie so vorgehen, wie Pongratz das vorschlägt.
Christian A. Pongratz: Betriebsdesaster. durchdacht.cc, 160 Seiten, 24,50 Euro.
Xiberger Ansichten
Was bedeutete Alpintourismus in Zeiten vor Hüttengaudi, Carvern und sündteuren Liftkarten? Rita Bertolini hat sich auf die Suche gemacht und zahlreiche, beeindruckende Bilddokumente gefunden, die das Erleben der Gäste in Vorarlberg vor gut 130 Jahren eingefangen haben. Der ausladende Bildband besticht aber auch durch den gut recherchierten Text mit erhellenden Zitaten; ein Buch über die Vergangenheit, in dem man sich im Heute verlieren kann.
Rita Bertolini: Landpartie Vorarlberg. Bertolini Verlag, 384 Seiten, 34 Euro.
Friede, Freude, Lateinamerika
In eine ähnliche Richtung wie das positiv gestimmte Geschichtswerk „Gewalt“ geht auch ein Buch über Lateinamerika von Sebastian Schoepp. Optimistisch, vielleicht allzu optimistisch, blickt er in die Zukunft des Subkontinents. Seine These: Bis 2000 dominierten schlechte Nachrichten, seither jedoch wird alles gut. Und, überspitzt formuliert: Die Welt kann lernen von Lateinamerika, dem friedlichen Schmelztiegel der Ethnizitäten, der drauf und dran ist, das Weltklima zu retten und die Weltwirtschaft dazu. Viele interessante Analysen, historische Querverweise und umfangreiches Datenmaterial findet sich zwischen Allgemeinplätzen - und über die Schlüsse, die Schoepp zieht, lässt sich trefflich streiten.
Sebastian Schoepp: Das Ende der Einsamkeit. Was die Welt von Lateinamerika lernen kann. Westend, 282 Seiten, 18,50 Euro.
Elmayers Benimmfibel
Ein Klassiker sind natürlich Thomas Schäfer-Elmayers Benimmtipps. Heuer ist eine komplett überarbeitete Neuauflage der Fibel „Alles, was Sie über gutes Benehmen wissen müssen“ bei ecowin erschienen. Viele der Tipps sind brauchbar, Einiges wird einem schon vorher klar gewesen sein. Manchmal würde man sich ein bisschen weniger Witz und ein bisschen mehr Verbindlichkeit wünschen. Auch wenn heute oft schon „anything goes“ gilt - wenn man sich unsicher ist, würde man sich trotzdem ein Elmayer’sches Machtwort wünschen.
Thomas Schäfer-Elmayer: Alles, was Sie über gutes Benehmen wissen müssen. Ecowin, 382 Seiten, 24,90 Euro.
Johanna Grillmayer, Simon Hadler und Georg Krammer, alle ORF.at
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