Themenüberblick

Große Erzählungen

Die Romane der Herbst- und Wintersaison sind inhaltlich breit gestreut - von epischen Geschichtsromanen bis hin zu Liebesgeschichten mit philosophischem Hintergrund und Ekstatischem aus dem Wilden Osten reicht die Palette.

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Die gemeinsame Klammer: Historisches, Politisches und Geisteswissenschaftliches kommt fast durchwegs als leicht lesbare Kost daher.

Genderkitsch und pittoresker Verfall

Jeffrey Eugenides wird seit seinem Roman „Middlesex“ stets in einem Atemzug mit Jonathan Franzen genannt, wenn es um große, zeitgenössische amerikanische Erzähler geht. In seinem neuen Roman „Die Liebeshandlung“ gibt er mit großem Gestus die Geschichte dreier junger US-Bürger wieder, die auf der Suche nach der Liebe und nach einem sinnvollen Start ins eigene Leben sind. Mit viel Literatur und geisteswissenschaftlichem Uniballast im Gepäck begeben sie sich auf Europareise, wo sie den „Mut“ bewundern, „die Dinge so schön verrotten zu lassen“. Gendertheorie und Romantik lassen sich vereinbaren in diesem 624-Seiten-Schinken.

Jeffrey Eugenides: Die Liebeshandlung. Rowohlt, 624 Seiten, 25,70 Euro.

Bücher auf schwarzem Untergrund

ORF.at/Zita Köver

Die DDR existiert - noch

Allzu ausgefallene Ideen von Debütanten werden oft mit Skepsis aufgenommen - aber Simon Urbans Idee zu „Plan D“ traf einen Nerv. Überschwänglich lobte das deutsche Feuilleton seinen Science-Fiction-Thriller, in dem die DDR bis 2011 nicht untergegangen ist. Allerdings liegt sie wirtschaftlich darnieder, und als auch noch ein Mord geschieht, der die internationale Aufmerksamkeit auf sich zieht und die Stasi in ein schiefes Licht rückt, droht ein Systemwechsel; grotesk, humorvoll und gut durchdacht.

Simon Urban: Plan D. Schöffling & Co., 552 Seiten, 25,70 Euro.

Road-Movie-Literatur zum Wilden Osten

Andrzej Stasiuk ist der polnische Star der Reisereportage. Seit vielen Jahren widmet er sich vor allem den sich veränderten Lebenswelten im Osten Europas. In seinem jüngsten Roman „Hinter der Blechwand“ fahren zwei Freunde mit einem klapprigen Kleinbus durch die Lande und verkaufen billige, gefälschte Markenmode. Sie bewegen sich stets in einer Atmosphäre der Zwielichtigkeit - die aber voller Alltagspoesie ist. Plötzlich ziehen ihnen Großhändler aus Fernost mit ihrer Massenware den Boden unter den Füßen weg - und der Road-Movie-artige Roman wird sogar noch zum brutalen Thriller.

Andrzej Stasiuk: Hinter der Blechwand. Suhrkamp, 349 Seiten, 23,60 Euro.

Der britische Humor des Außenseiters

Howard Jacobson hatte lange Zeit als Außenseiter der britischen Literatur gegolten - bis ihm 2010 für „Die Finkler-Frage“ der begehrte Booker-Price verliehen wurde. Nun ist der Roman über einen gescheiterten BBC-Reporter bei DVA auf Deutsch erschienen. Der Mann wird bei einem Überfall als „Jude“ beschimpft und beginnt sich mit dem jüdischen Volk zu identifizieren. Das Buch ist eine Tragikomödie und besticht durch Jacobsons feinen Sinn für Humor und Selbstironie.

Howard Jacobson: Die Finkler-Frage. DVA, 438 Seiten, 23,70 Euro.

Eugen Ruges großer Generationenroman

Alfred-Döblin-Preis für die Manuskriptfassung, zuletzt Deutscher Buchpreis und eine Serie an Publikumsauszeichnungen. Eugen Ruges „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ gilt als der literarische Meilenstein in diesem Bücherherbst. Seine nüchtern gehaltene, klug montierte Familiengeschichte, die Aufstieg und Ende der DDR und das Leben im neuen vereinten Deutschland porträtiert, überzeugte nicht nur die Kritik, sondern auch die Leser. Das Leben dreier Generationen wird gegengeschnitten und dadurch Konstanten des Menschseins herausgearbeitet.

Eugen Ruge: In Zeiten des abnehmenden Lichts. 425 Seiten, Rowohlt Verlag, 20,60 Euro.

Krieg spielen mit Bolano

Seit dem Erfolg seines Romanmonsters „2666“ hält der Hype um Roberto Bolano an, immer mehr Werke aus seiner frühen Schaffensphase werden neu aufgelegt. Und auch im Nachlass des vor acht Jahren verstorbenen Chilenen finden sich weitere Werke. So auch „Das Dritte Reich“, in dem Bolano einmal mehr mit nüchterner Sprache menschliche Abgründe skizziert. Der deutsche Udo Berger kehrt mit seiner Freundin an den Urlaubsort seiner Jugend in Spanien zurück. Dort will er sich vor allem seinem Hobby, einem strategischen Brettspiel, das den Zweiten Weltkrieg simuliert, widmen. Als Spielpartner findet Berger einen mysteriösen, entstellten Tretbootverleiher - und der stellt sich als alles andere als ein vermeintlich leichter Gegner heraus.

Roberto Bolano: Das Dritte Reich. Hanser, 320 Seiten, 22,60 Euro.

Gatsbys Fluchtorte in Krisenzeiten

Der Mythos „Gatsby“ lebt weiter - gerade heute ist sein dandyhafter Look wieder angesagt. Francis Scott Fitzgeralds „Der große Gatsby“ ist aber auch deshalb wieder aktuell, weil er den Aufstieg und Fall eines „Geldmenschen“ während einer Wirtschaftskrise und in Zeiten allgemeiner Desillusionierung zeigt. Parallelen zur Gegenwart sind gegeben. Auch heute bieten sich Sehnsucht und Liebe (wenn auch mitunter unglückliche) als Fluchtorte an. Neue Übersetzungen liegen vor, weil die Rechte an dem Werk erloschen sind, etwa von Reinhard Kaiser für den Insel Verlag.

Francis Scott Fitzgerald: Der große Gatsby. Insel, 213 Seiten, 23,60 Euro.

Poptheoretische Sprudelprosa

Thomas Meinecke, dessen „Tomboy“ in der Kategorie „Pop-und-Gendertheorieroman“ nach wie vor ungeschlagen ist, hat mit „Lookalikes“ ein weiteres Buch über Körper, Kultur und Repräsentation geschrieben. Diesmal geht es um Doubles von Popstars, die mit ihrer Ähnlichkeit Geld machen wollen. Und um Anhänger der brasilianischen Religion Candomble, wo sich Gottheiten für kurze Zeit der Körper ihrer Jünger bedienen, und es so viele Philosophien und Wertesysteme gibt wie Gätter. Fritz Ostermayer (FM4) spricht(Das Tolle an Meineckes obsessiver Sprudelprosa) von „toller Sprudelprosa“, bei der es nicht darauf ankommt, alles zu verstehen.

Thomas Meinecke: Lookalikes. Suhrkamp, 393 Seiten, 23,60 Euro.

Bücher auf schwarzem Untergrund

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Das schummrige Venedig und die Avantgarde

In seinem nun auch auf Deutsch vorliegenden Werk „Perversion“, von Literaturkritikern als sein Opus magnum gefeiert, begleitet man den ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch durch die unbekannten Bereiche der Lagunenstadt Venedig. Die Abenteuer des Helden des Romans, eines Happening-Künstlers, Schriftstellers und Enfant terribles, werden von seinem vermeintlichen Selbstmord aus aufgerollt. Und Andruchowytsch lässt so gut wie keine Avantgarde-Bewegung des 20. Jahrhunderts aus, um durch ein Sammelsurium an unterschiedlichen Texten und Zeugenberichten der Geschichte Fleisch zu verleihen - Geheimagenten und Bespitzelung inklusive.

Juri Andruchowytsch: Perversion. Suhrkamp 333 Seiten, 23,60 Euro.

Disneyland des rumänischen Kommunismus

Der 1956 in Rumänien geborene Mircea Cartarescu gilt neben Thomas Pynchon als der vielleicht spannendste zeitgenössische Autor, der sich der postmodernen Tradition (in der Gefolgschaft von James Joyce) verschrieben hat. Nun erschien auf Deutsch nach „Die Wissenden“ mit „Der Körper“ das zweite Buch seiner „Orbitor“-Trilogie. Traumwandlerisch bewegt sich ein Mann durch seine Biografie und durch das Bukarest des 20. Jahrhunderts. Die Bilder, ob Fantasie oder Realität, entwickeln eine ungeheure Sogwirkung. Es entsteht ein schräges Disneyland des rumänischen Kommunismus, geprägt von starken Individuen und von Armut.

Mircea Cartarescu: Der Körper. Zsolnay, 607 Seiten, 26,80 Euro.

Die Liebesbriefe eines Folk-Stars

Bill Callahan ist einer der einflussreichsten Künstler der Neo-Folk-Bewegung. Seinen Songs, etwa „Teenage Spaceship“ und „Dress Sexy at my Funeral“, wohnt eine poetische Kraft inne, die ihresgleichen sucht. Nun hat er erstmals ein Buch veröffentlicht, den recht kurz gehaltenen Briefroman „Briefe an Emma Bowlcut“. Was für seine Lieder gilt, gilt auch für diese Liebesbriefe. Ein beliebiges Zitat: „Die Nacht ist so radikal vom Tag getrennt. Wie Bahnsteige ohne Brücke. Du musst springen, zupacken und klettern, um von einem auf den anderen zu kommen.“

Bill Callahan: Briefe an Emma Bowlcut. Milena, 160 Seiten, 18,80 Euro.

Bierbichlers „kratzbürstiges“ Debüt

Zum ersten Roman „Mittelreich“ des Schauspielers Josef Bierbichler erfand das Feuilleton gleich neue Genrebezeichnungen wie „Gastronomieroman“ und „Kratzbürstenroman“. Erzählt wird die Geschichte dreier Generationen einer Bauern- und Wirtsfamilie, um die sich zahlreiche Anekdoten und Szenen eines „Clash of Cultures“ ranken. Sprachlich kraftvoll, spannend und mit deftigem Humor kratzt Bierbichler unbarmherzig frei, was unter der ländlich-idyllischen Oberfläche steckt: Bigotterie, Naziverbundenheit und seelische Abgründe.

Josef Bierbichler: Mittelreich. Suhrkamp, 391 Seiten, 23,60 Euro.

Umberto Eco und die große Verschwörung

Während Autoren wie Dan Brown Verschwörungstheorien weiterspinnen, entlarvt Umberto Eco ihre Entstehung in seinem neuen Roman „Der Friedhof in Prag“ als Verschwörung für sich. Jener antisemitische Kauderwelsch, der im Europa des 19. Jahrhunderts kursierte und später den Bodensatz für den Nationalsozialismus bilden sollte, dient ihm als Spielwiese für eine spärliche Handlung, die im Gegensatz zur Fülle an historischen Fakten steht. Der Roman funktioniert als historisches Lesebuch, das in selten gelesener Geballtheit den Ekel an antisemitischen Theorien vermittelt.

Umberto Eco: Der Friedhof in Prag. Hanser, 524 Seiten, 26,80 Euro.

Dystopie als bunter Thriller

Jasper Fforde ist ein Science-Fiction-Autor, aber einer für alle, die sonst vielleicht keine Science-Fiction mögen. Bekannt wurde er mit seiner Fantasiereihe rund ums Reisen in die Handlung von Büchern („Der Fall Jane Eyre“). Nun sorgt er mit ganz anderem Stoff für Furore - einer neuen Reihe über die Abenteuer des jungen Eddie Russett, von der nun auf Deutsch der erste Band „Grau“ erschienen ist. Fforde ist ein guter Geschichtenerzähler. Seine ersonnene Welt rund um eine zukünftige, faschistische Welt, in der sich alles um Farben dreht, wird rasch mit Leben, Liebe und einer Thrillerhandlung aufgefüllt, die niemanden kaltlassen dürfte.

Jasper Fforde: Grau. Eichborn, 491 Seiten, 24,95 Euro.

Abenteuerroman für historisch Interessierte

Freiheitskampf, Folter und die Furchtbarkeiten des Kolonialismus: Mit „Der Traum des Kelten“ legt der peruanisch-spanische Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa ein Spätwerk vor, das sich einer fesselnden Thematik widmet und dem Leser den Atem raubt - allerdings weniger durch seine erzählerische Dramaturgie als durch die schiere Fülle an Fakten. Das Buch ist zwar auch ein Abenteuerroman, richtet sich aber in erster Linie an historisch Interessierte.

Mario Vargas Llosa: Der Traum der Kelten. Suhrkamp, 444 Seiten, 25,60 Euro.

Liebeskummer, Bindungsängste, Sehnsucht

Petrarca schrieb seine Liebesgedichte im 14. Jahrhundert - und er gilt damit als einer der Begründer der neuzeitlichen Lyrik. Ob die Verse den Jahrhunderten standgehalten haben - darüber kann man sich nun nach Lektüre einer Neuübersetzung ein Bild machen. Im Insel Verlag ist der Band zweisprachig, auf Italienisch und Deutsch erschienen. Liebeskummer, Bindungsängste, Sehnsucht - die Themen jedenfalls sind zeitlos.

Francesco Petrarca: Canzoniere. Insel, 274 Seiten, 25, 60 Euro.

Bücher auf schwarzem Untergrund

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Detailverliebte Orient-Graphic-Novel

International gesehen ist die Graphic Novel dieses Herbstes wohl „Habibi“ – ein über 650 Seiten starkes Werk des US-amerikanischen Zeichners und Autors Craig Thompson. Außen erinnert es an einen Koran, innen öffnet sich eine fantastische Welt aus 1001er Nacht. Erzählt wird die Liebesgeschichte der Sklavenkinder Dodola und Zam, die sich als Erwachsene in einem Harem wiederfinden: sie als Prostituierte, er als Eunuch. So spannt sich ein Feld zwischen mehr oder weniger sexuellem Verlangen, zwischen Wollen und Haben, zwischen Dürre und Überschwemmungen. Craig Thompson ist nicht nur ein fantastischer Geschichtenerzähler, sondern ein ebensolcher Zeichner, der gekonnt detailverliebte Alltagsszenen und prächtige Landschaften mit arabischen Schriftzeichen und orientalischen Ornamenten verbindet.

Craig Thompson: Habibi. Reprodukt, 655 Seiten, 40,10 Euro.

„Lenin, der Freund aller Kinder“

Julya Rabinowich erhielt für ihren vielbeachteten Debütroman „Spaltkopf“ unter anderem den Rauriser Literaturpreis. 2011 wurde das Buch auf Englisch übersetzt und auf Deutsch von Deuticke neu editiert und in größerer Auflage gedruckt. Was heißt Emigration für ein Kind, das mit ihren Eltern aus der Sowjetunion nach Wien flieht? „Mein Vater und ich bekommen einen Nervenzusammenbruch, weil er mir an einem einzigen Abend drei Jahre Kommunismus austreiben will und ich es nicht fassen kann, dass Lenin, der Freund aller Kinder, ein Arschloch sein soll.“

Julya Rabinowich: Spaltkopf. Deuticke, 203 Seiten, 18,40 Euro.

Ein literarisches Denkmal

Bohumil Modry, Hauptfigur von Josef Haslingers neuem Roman „Jachymov“, ging an dem gleichnamigen NS-Lager und späteren tschechoslowakischen Gulag zugrunde, in dem Uran abgebaut wurde. Nun bekommt er ein Denkmal: ein Buch, das zwischen Realität und Fiktion wechselt und ein vielstimmiges Bild jener Zeit entwirft, die weiter in unsere Tage reicht, als man auf den ersten Blick meinen würde. Josef Haslinger findet den rechten Ton. Sein Roman „Jachymov“ ist kein schwermütiges Requiem, sondern ein lebendiges Stück Geschichte. Man hört zu, ist gefangen und trägt sie dann weiter, schreibt Ö1.

Josef Haslinger: Jachymov. S. Fischer, 272 Seiten, 20,60 Euro.

„Alte Meister“ neu gezeichnet

Im November startete Suhrkamp seine neue Graphic-Novel-Reihe mit einem Experiment: Der Wiener Zeichner Nicolas Mahler wurde beauftragt, Thomas Bernhards Roman „Alte Meister“ Leben einzuhauchen. Keine leichte Herausforderung - spielt sich die handlungsarme Geschichte über einen permanent motzenden Musikkritiker doch nur im Kunsthistorischen Museum ab. Mahler besteht die Aufgabe mit Bravour: Die bissige Sprache Bernhards trifft auf seinen tiefschwarzen Zeichnerhumor - und ergibt in der Melange eine ebenso literarisch anspruchsvolle wie vergnügliche Adaption des Romans.

Thomas Bernhard: Alte Meister, gezeichnet von Mahler. Suhrkamp, 158 Seiten, 19,50 Euro.

Wenn der Therapeut mit dem Klienten ...

Reinhard Kaiser-Mühlecker reiht sich in die Riege jener heimischer Autoren ein, die verlässlich Neuerscheinungen liefern. Nach seinem Sensationserstling „Der lange Gang über die Stationen“, „Magdalenaberg“ und zuletzt „Wiedersehen in Fiumicino“ legt er nun das Theaterstück „Die Therapie“ in knappen 84 Seiten vor. Eine Psychotherapeutin lässt ihre Sitzungen mit einem Klienten an sich vorbeirauschen. Mehr als seine Familiengeschichte interessiert sie der junge Mann selbst. Die klassische Zweiersituation gerät nur zögerlich, nach und nach aus den Fugen.

Reinhard Kaiser-Mühlecker: Die Therapie. Ein Stück. Hoffmann und Campe, 84 Seiten, 10,30 Euro.

Die dunkle Welt der Arbeitersiedlung

„Die Voest-Kinder“ von Elisabeth Reichart ist ein aus der Sicht eines Kleinkindes geschriebener Roman über die Nachkriegszeit in einer Arbeitersiedlung. Das Mädchen stößt mit seinen Fragen bei den Erwachsenen meist auf Schweigen und muss Themen wie Ausgrenzung von Minderheiten und Rassismus eigenständig bzw. mit Gleichaltrigen reflektieren. Mit zunehmendem Alter verliert sie dabei ihre kindliche Naivität. Die bunte Fantasiewelt des Kindes muss immer mehr einer dunklen Stimmung und der Realität in der Voest-Siedlung weichen.

Elisabeth Reichart: Die Voest-Kinder. Otto Müller Verlag, 301 Seiten, 22 Euro.

Wenn das AMS vermittelt

Einen flotten Erstlingsroman lieferte Kurto Wendt mit „Sie sprechen mit Jean Amery, was kann ich für Sie tun?“ ab. Frank Smutny ist der klassische Antiheld, dessen Leben zwischen Gemütlichkeit und kleinen subversiven Alltagsaktionen dahintröpfelt. Das ändert sich, als Frank schließlich vom AMS gezwungen wird, einige Wochen im Callcenter einer Telekomfirma zu arbeiten. Frank schlägt sich dort erstaunlich erfolgreich, ehe eine mysteriöse Anruferin seinem Leben eine abenteuerliche Wende geben soll. Zwischen pointierten Darstellungen der schöne neue Arbeitswelt und einer soliden Crimestory ist „Sie sprechen mit Jean Amery, was kann ich für Sie tun?“ ein kurzweiliger Wien-Roman.

Kurto Wendt: Sie sprechen mit Jean Amery, was kann ich für Sie tun? Milena Verlag, 152 Seiten, 16,90 Euro.

Bücher auf schwarzem Untergrund

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Goa-Jünger mit Triebsteuerung

Zehn Jahre Goa: Man findet sich selbst, entwickelt seine Persönlichkeit weiter, erlebt freie, aber wahre Liebe, geht in der Gemeinschaft auf und kommt dann geläutert zurück. So läuft es nicht - zumindest nicht in Michael Leons „ziemlich autobiographischem“ Roman „Exit Goa“. Hier geht es um Triebbefriedigung, koste es, was es wolle: One-Night-Stands mit Touristinnen, kiffen, koksen, Trips und Motorradfahren. Aber auch wenn es mit der Weiterentwicklung nicht so klappte: Am Ende war der Goa-Jünger um eine entscheidende Erkenntnis reicher.

Michael Leon: Exit Goa. Czernin, 198 Seiten, 19,80 Euro.

Mayröcker, Blixa Bargeld und Schumann

Was haben Ezra Pound, Samuel Beckett, James Joyce, Jacques Derrida, Blixa Bargeld und Robert Schumann gemeinsam? Sie alle treten in Friederike Mayröckers dünnem lyrischem Prosabändchen „vom Umhalsen der Sperlingswand, oder 1 Schumannwahnsinn“ auf. Der Text ist ein Tartarenritt der Autorin durch einen beliebigen Konzertsaal. Eine Pianistin und ein Komponist feiern die Musik. Die „Faltentiefe der Gewänder sinkender Tabletten“ wird begleitet vom „Rauchen der Baumkronen im Garten, den wie Ärmchen ausgespannten Knospen der Kastanientriebe in eine Vase“.

Friederike Mayröcker: vom Umhalsen der Sperlingswand, oder 1 Schumannwahnsinn. Suhrkamp, 41 Seiten.

Südtiroler Zeitgeschichte

Mit „Stillbach oder Die Sehnsucht“ führte Sabine Gruber im August die ORF-Bestenliste an. Thematisch handelt sie in dem Roman die Verstrickungen von Südtirolern im Faschismus und im Zweiten Weltkrieg ab. Als Vehikel dazu dient ihr das Tagebuch einer Frau, das nach deren Tod auftaucht. Erzählt wird die Geschichte dreier Frauen. Programmatisch stellt Gruber ihrem Text ein Gedicht von Giuseppe Ungaretti voran: „Hört auf, die Toten zu töten (...), sie machen nicht mehr Lärm als das Wachsen des Grases, froh, wo kein Mensch geht.“

Sabine Gruber: Stillbach oder Die Sehnsucht. C.H.Beck, 379 Seiten, 20,60 Euro.

Wo Menschen aufeinandertreffen

Irene Prugger komponiert in „Letzte Ausfahrt vor der Grenze“ einen Reigen überraschender Paarungen. Mit hintergründigem Humor erzählen ihre Kurzgeschichten von enttäuschten Hoffnungen und letzten Möglichkeiten und zeigen, dass eben alles eine Frage des richtigen Zeitpunktes und des richtigen Ortes ist. Soll man nun auf Linie bleiben? Das Tempo drosseln? Oder Gas geben und Grenzen überschreiten?

Irene Prugger: Letzte Ausfahrt vor der Grenze. Haymon, 184 Seiten, 19,90 Euro.

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Kirchstetten mal drei

Kurt Leutgebs Bücher erscheinen ohne große Aufheben, aber in schöner Regelmäßigkeit. Vor allem sein Wien-Science-Fiction-Roman „K2“ (Sisyphus Verlag) hätte sich eine größere Leserschaft verdient gehabt. Heuer ist bei Limbus „Kirchstetten“ erschienen. Den Ort gibt es rund um Wien dreimal. Leutgeb erzählt dementsprechend drei Geschichten, in denen sich alles um Politik, Zeitgeschichte und Lyrik dreht.

Kurt Leutgeb: Kirchstetten. Limbus, 110 Seiten, 15,90 Euro.

Die Lady Gaga der heimischen Literatur

Thomas Glavinic, ein gebürtiger Steirer, der ausgezogen ist, um die rurale Coolness neu zu definieren, geht diesmal auf Reisen - und zwar ist er „Unterwegs im Namen des Herrn“. Gemeinsam mit einem Freund begibt er sich auf eine Pilgerfahrt nach Medjugorje, dem bosnischen Fatima mit seinen Marienerscheinungen. Glavinic vergleicht den katholischen Fankult dort mit einem Lady-Gaga-Konzert. Und gaga wird auch der Erzähler zusehends, bis er schließlich, fiebernd, „gerettet“ wird, nur um bei der Mafia zu landen; für ein paar Lacher allemal gut.

Thomas Glavinic: Unterwegs im Namen des Herrn. Hanser, 207 Seiten, 18,40 Euro.

Sex sells

Ela Angerer führt für den Czernin Verlag ihre Reihe mit Texten heimischer Autoren weiter, die dazu angehalten sind, sich einem bestimmten Thema autobiografisch anzunehmen. Zuletzt ging es etwa um Tiefpunkte des Lebens, dann um zwischenmenschliche Katastrophen, diesmal um Liebe, Sex und Peinlichkeiten. Schriftsteller wie Julya Rabinowich, Barbi Markovits und Thomas Glavinic widmen sich dem Thema Nummer eins. Manches geriet naturgemäß peinlich: „‚Ich werde dir wehtun. Ich werde dich schlagen, während ich dich ficke.‘ ‚Ja, bitte mach das.‘“ Anderes ist wider Erwarten gar nicht peinlich, etwa Robert Palfraders Bekenntnis zur Onanie.

Ela Angerer (Hrsg.): Porno. Czernin, 117 Seiten, 9,90 Euro.

Mit Derrida vor dem Grab des Vaters

Auf eine literarische Entdeckungsreise nimmt den Leser FM4 nun zum 11. Mal mit dem Sammelband zum Wortlaut-Literaturwettbewerb mit. Als Impuls wurde den Autoren diesmal das Wort „Zirkus“ genannt. Schön skurril geht es in den meisten Geschichten zu. Zwei der stärkeren Texte haben den Tod zum Inhalt. Woran denkt der Sohn am offenen Grab des Vaters? In diesem Fall an Derrida. Herausgegeben wurde der Band von den beiden FM4-Redakteurinnen Zita Bereuter und Martina Bauer.

Zita Bereuter, Martina Bauer (Hrsg.): Wortlaut 11. Zirkus. Der FM4 Literaturwettbewerb. Die besten Texte. Luftschacht, 149 Seiten, 13,60 Euro.

Die gespenstische Faszination des Bösen

„HHhH“, „Himmlers Hirn heißt Heydrich“. Unter diesem kryptischen Titel versteckt sich die literarische Sensation Frankreichs aus dem Vorjahr, die immerhin mit dem „Prix Goncourt“ bedacht wurde. Im Fahrwasser von Jonathan Littels „Die Wohlgesinnten“ schreibt Laurent Binet in seinem Romanerstling die Biografie des 1942 in Prag ermordeten Gestapo-Chefs Reinhard Heydrich. Zwar liefert Binet keine historisch neuen Fakten. Mit dem Roman versucht er aber gerade die gespenstische Faszination einer Figur wie Heydrich zu verdeutlichen: Ein literarisches Ich steht fragend vor einer historischen Faktenlandschaft, wissend, dass entscheidende Stellen vom historiografischen Material immer unbeleuchtet bleiben und nur durch die Erzählung verwirklicht werden können. Nicht zuletzt der Weg der Attentäter ermöglicht dem Autor auch eine Suche nach den eigenen familiären Wurzeln in Tschechien und der Slowakei.

Laurent Binet: HHhH. Rowohlt, 444 Seiten, 20,60 Euro.

Zwischen Grausamkeit und Menschlichkeit

Den Holocaust als „Alltag“ hat die vor wenigen Jahren erst veröffentlichte „Chronik von Lodz“ dokumentiert. Der schwedische Romancier Steve Sem Sandberg nimmt diese Chronik als Grundbaustein für die Verbindung von Historiografie und Literatur. Sein Werk „Die Elenden von Lodz“ verlangt den Lesern viel ab, führt sie doch durch das Leben in dem mit 200.000 Menschen völlig überfüllten Ghetto. Das Buch pendelt zwischen den Aspekten Grausamkeit und Menschlichkeit, es stellt teils authentische, teils fiktive Figuren rund um den von den Deutschen eingesetzten „Judenrat“ in den Mittelpunkt. Chaim Rumkowski, der „Judenälteste“, hat in diesem System eine relative Befehlsgewalt über seine Mitinsassen im Ghetto: mit eigener Polizei und Verwaltung, mit Schulen und Krankenhäusern. „Unser einziger Weg ist Arbeit!“ So und mit einer gehörigen Portion Opportunismus wollte er sich und die seinen retten. Doch er sollte irren. Schonungslos zeigt das Buch, wie das Leben im Ghetto letztlich ins Vernichtungslager Auschwitz führte.

Steve Sem Sandberg: Die Eldenden von Lodz. Klett-Cotta, 651 Seiten, 27,80 Euro.

Simon Hadler, Sophia Felbermair, Peter Falkner, Peter Bauer, Armin Sattler, Sonja Ryzienski, Gerald Heidegger, Christian Körber, Zita Bereuter, alle ORF.at

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