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„Coming-out des öffentlichen Raums“

Medellin, der zweitgrößten Stadt Kolumbiens, haftet wegen der fehlenden Jahreszeiten der Beiname „Hauptstadt des ewigen Frühlings“ an - und zugleich der viel weniger positive Ruf als Nummer eins der internationalen Kokainproduktion und der damit verbundenen Kriminalität.

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Jahrzehntelang glichen die Straßen der Stadt nach Einbruch der Dunkelheit einem Kriegsgebiet. Wer sich in gewissen Gegenden vor die Tür wagte, riskierte sein Leben. „Wir haben in einem Gefängnis gelebt“, sagte der kolumbianische Architekt Camilo Restrepo gegenüber dem Kunstmagazin „Monopol“ über seine Heimatstadt Medellin. „Was wir jetzt erleben, ist das Coming-out des öffentlichen Raums.“

Tatsächlich ist viel Zeit vergangen, seit der gefürchtete Drogenboss Pablo Escobar 1993 auf der Flucht von der Polizei erschossen wurde. In der Zwischenzeit gelang es zwar seinem Nachfolger Fabio Ocho, der als „internationaler Kokainkönig“ einen gewissen Bekanntheitsgrad erlangte, das Medellin-Kartell noch einmal zu Rekordumsätzen von bis zu 30 Tonnen geschmuggelten Kokains pro Monat zu führen, doch die schlimmsten Zeiten könnten vorbei sein: Seit Ocho zusammen mit 31 weiteren Anführern verhaftet wurde, scheint es der Stadtverwaltung mit gezielten Kultur- und Architekturprojekten gelungen zu sein, das Ruder herumzureißen.

Die Rettung eines berüchtigten Armenviertels

Ausgerechnet eine Bibliothek sollte aus einem der gefährlichsten und heruntergekommensten Viertel der Stadt - Santa Domingo - wieder eine sichere und lebenswerte Gegend machen. Zu Beginn schien das Projekt zum Scheitern verurteilt zu sein: Dort, wo Drogenbosse junge Auftragsmörder rekrutierten, konnte man kaum etwas mit der Idee von Kultur und Bildung anfangen. In einer Welt, in der man damit rechnen musste, auf der Straße erschossen zu werden, fielen die Versuche, Sicherheit, Bildung und Frieden in den Stadt zu bringen, zuerst auf kaum fruchtbaren Boden.

Wer mit der Seilbahn von der U-Bahn-Station im Tal in das Viertel schwebte, bekam auf den Dächern der Wellblechhütten wenig Schmeichelhaftes zu lesen. Mit Drohungen und Beleidigungen begrüßte man die Fremden, die sich nach Santo Domingo wagten. Das hat sich geändert: Heute sieht man Blumenbeete, mit denen die Bewohner ihre Hütten schmücken - die Zeichen haben sich geändert, wie „Monopol“ berichtete.

Gesellschaftlicher Wandel durch Bildung und Kultur

Im Zentrum des gesellschaftlichen Wandels steht die Biblioteca Espana, die bestehend aus drei riesigen schwarzen Kuben über den verwahrlosten Hütten und Häusern thront. Neben der Bibliothek sind in dem Gebäude ein Kindergarten, ein kleines Theater, Computer- und Ausstellungsräume untergebracht. Mittlerweile hat sich die Biblioteca gut etabliert: Bis zu 2.000 Besucher pro Tag zählt das Kulturzentrum mittlerweile.

Biblioteca Espana

APA/EPA/Edgar Dominguez

Wie riesige Felsen ragen die drei Gebäude der Biblioteca Espana aus den Hügeln des Viertels Santo Domingo.

Als verbindendes Element zwischen den verschiedenen Gesellschaftsschichten fungiere die Biblioteca: „Durch die Biblioteca und die Seilbahn haben die Menschen zum ersten Mal das Gefühl, dass die Reichen sich um sie kümmern“, so Giancarlo Mazzanti, Architekt des Bibliothekkomplexes gegenüber „Metropol“. „Wichtig ist, dass wir einen Wandel im Denken erreicht haben. Auch die Ärmsten haben jetzt Zugang zu Bildung und Kultur und sehen andere Perspektiven als Mord und Prostitution.“

Mit der Seilbahn aus den Slums

Die Anbindung des ehemals so gefährlichen Viertels mit der Seilbahn spielte in der Aufwertung der Gegend eine wesentliche Rolle und gilt als Vorzeigeprojekt, das bereits Nachahmer findet. So wird derzeit ein ähnliches Transportsystem in Brasiliens Metropole Rio de Janeiro fertiggestellt und die berüchtigte Armensiedlung Complexo do Alemao an das öffentliche Verkehrssystem angeschlossen.

Innenstadt mit internationaler Vorbildwirkung

Doch auch in der Innenstadt Medellins hat sich viel getan: Felipe Uribe gilt der als der wohl einflussreichste Architekt der jüngeren Stadtgeschichte, der mit einer Reihe von Bibliotheken, Kultureinrichtungen und dem Parque de los Deseos (Park der Sehnsüchte) dafür sorgte, dass die Lebensqualität in den letzten Jahren stieg.

Sein Ansatz: Die Rückbesinnung auf die Basisarbeit und die altgriechische Idee vom öffentlichen Platz als Grundlage der Demokratie und die Stadt als organischer Körper. Damit haben sich die kolumbianischen Architekten an die Spitze der internationalen Avantgarde gesetzt. Uribe, Restrepo und ihre Kollegen werden zu internationalen Symposien geladen, und Städteplaner aus aller Welt kommen nach Medellin, um von den Kolumbianern zu lernen.

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