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„Ach! Wie gebrechlich ist der Mensch“

Heinrich von Kleist war nahezu ein Niemand, als er sich am Montag vor 200 Jahren mit seiner Vertrauten Henriette Vogel am Kleinen Wannsee bei Berlin erschoss. Selbst die eigene Familie hieß ihn ein „nichtsnütziges Glied der Gesellschaft“. Erst posthum avancierte der Verfasser von Werken wie „Der zerbrochne Krug“, „Die Hermannsschlacht“, „Der Prinz von Homburg“ und „Michael Kohlhaas“ zum Klassiker.

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Heute gilt Kleist als großer Dramatiker - und selbst sein Tod war eine perfekte Inszenierung. Der 21. November 1811 war ein kalter Herbsttag, wie die „Zeit“ in ihrer Würdigung schreibt. Die Wirtsleute des Gasthofs Stimmings Krug am Kleinen Wannsee bei Berlin seien daher verwundert gewesen, als ein junges Paar Kaffee und Rum ans Ufer bestellt habe. Die beiden seien euphorischer Stimmung gewesen. Ein Mitarbeiter der kleinen Gaststätte habe später zu Protokoll gegeben, er habe sie schäkernd am Ufer entlanglaufen sehen, einander jagend wie kleine Kinder.

Auf einem Hügel saßen sich Heinrich von Kleist (34) und seine Gefährtin Henriette Vogel (31) auf den Knien gegenüber. Die krebskranke Frau lehnte sich zurück, faltete die Hände - und ließ sich von dem Dichter in die Brust schießen. Eine Minute verging. Dann richtete er die Pistole gegen sich, drückte ab und sank zu ihr nieder. „Nun, o Unendlichkeit, bist du ganz mein“, wird später auf dem Grabstein stehen.

Wohnhaus in Thun Scherzlingen

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Kleist lebte von 1802 bis 1803 in diesem Haus am Schweizer Thunersee

Jagd nach Glück und Anerkennung

Kleist gilt mit seinem radikalen Werk heute längst als ein Vorreiter der Moderne. „Der zerbrochne Krug“ und „Das Käthchen von Heilbronn“ gehören zum festen Repertoire der Theater. Auch seine sperrigeren Stücke und Erzählungen wie „Die Marquise von O...“ und „Michael Kohlhaas“ zählen zur Weltliteratur.

„Kleists Protagonisten sind von deutscher Innerlichkeit und Grübelei frei, sie handeln und scheitern an der Realität, das macht seine Werke bis heute für Leser in aller Welt so attraktiv“, resümiert die Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft in Berlin, die sich seit 50 Jahren um die Erschließung des Werks bemüht. Und wie seine Protagonisten, so scheitert auch Kleist letztlich an den Herausforderungen der Realität. In der Umbruchzeit der Napoleonischen Kriege jagt er vergebens Glück und Anerkennung nach - ein Gegenbild zum schon zu Lebzeiten so erfolgreichen Dichterfürsten Johann Wolfgang von Goethe.

„Zerstückelte Biografie“

Der Intendant des Maxim-Gorki-Theaters in Berlin, Armin Petras, der im Kleist-Jahr alle acht Dramen des Dichters auf die Bühne brachte, sieht den Autor als moderne gebrochene Figur. „Diese Art der zerstückelten Biografie, immer wieder etwas Neues anzufangen, daran zu scheitern und das Nächste zu probieren, das ist in der Tat etwas, das in unserer Zeit plötzlich wieder eine ganz neue Virulenz bekommt“, sagt der Theatermacher in einem Gespräch mit Nada Weigelt von der dpa.

Auf der Suche nach sich selbst

Als Sohn eines preußischen Offiziers vermutlich am 10. Oktober 1777 in Frankfurt an der Oder geboren, stand Kleist eigentlich eine glänzende Karriere bevor. Mit 14 trat er, der Familientradition folgend, in die Armee ein. Doch der Militärdienst und ein Kriegseinsatz am Rhein stürzten ihn in die erste existenzielle Krise. „Sieben unwiederbringlich verlorene Jahre“, sagte er später und bat um seinen Abschied aus dem Garderegiment - eine Ungeheuerlichkeit für einen preußischen Offizier.

Auszug aus dem Liebesbrief an Sophie von Haza

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Gedicht für eine Freundin, die Kleist mit der wohltuenden Kamille vergleicht

Auf der verzweifelten Suche nach einem Lebensplan, nach seiner „innigsten Innigkeit“, wie er sagte, begannen rastlose Jahre. Er fing an zu studieren, reiste in alle Welt, wollte einmal Forscher, ein andermal in der Schweiz Bauer werden. Die Verlobung mit der drei Jahre jüngeren Generalstochter Wilhelmine von Zenge ging zwei Jahre später in die Brüche - sie wollte als Bäuerin leben. Kleists Verhältnis zu Frauen war seither schwierig. Die Lektüre von Immanuel Kant mit dessen Zweifel an der objektiven Wahrheit zog ihm vollends den Boden unter den Füßen weg. „Mein einziges, mein höchstes Ziel ist gesunken, ich habe nun keines mehr“, notierte er.

Komödie, Ritterspiel, Drama

Die Ruhelosigkeit und Umtriebigkeit seines Lebens schlug sich auch im Werk nieder, das ab 1802 entstand. Kleist probierte von der Komödie bis zum Ritterspiel jedes Genre, jedes Thema aus. Gemeinsam ist den Stücken die innere Zerrissenheit ihrer Figuren und der Hang zu sinnloser Gewalt. So tötet im Trauerspiel „Penthesilea“ die Königin der Amazonen nicht nur ihren Geliebten Achill, sie schlägt ihm auch noch „den Zahn in seine weiße Brust“, zu gut deutsch: verspeist ihn gemeinsam mit den Hunden.

Das anti-französische Propagandastück „Die Hermannsschlacht“ ist eine bittere Parabel auf den von Kleist erhofften Partisanenkrieg gegen Napoleon. Und der gutmütige Rosshändler „Michael Kohlhaas“ verwandelt sich nur wegen des Streits um zwei Pferde in einen rücksichtslosen Mordbrenner. Selbst im Märchenspiel „Das Käthchen von Heilbronn“ bekommt die Titelheldin brutale Prügel von ihrem Geliebten, „Die Marquise von O...“ wird von ihrem späteren Bräutigam vergewaltigt.

„Zustand dauernder Radikalität“

„Er lebte in einem Zustand dauernder Radikalität“, schreibt der Frankfurter Publizist Peter Michalzik, dessen Kleist-Biografie Mitte Februar im Propyläen Verlag erscheint. Und in der „Zeit“ urteilte Ulrich Greiner: „Das Besondere an Kleists Genie ist die zur Sprache gewordene Gewalt.“ Tatsächlich sind seine Sätze vorwärtsdrängende, sich überschlagende Wortkaskaden, wie im Stakkato dahingehämmert.

An den Bühnen seiner Zeit kam Kleist nicht an. Auch die Uraufführung des „Zerbrochnen Krugs“ mit Goethes Hilfe am Hoftheater in Weimar geriet 1808 zum Flop. Kleist sei von einer „unheilbaren Krankheit“ ergriffen, stichelte der erfolgreiche Geheimrat im späteren Streit. Aber auch andere Projekte wie das Kunstjournal „Phöbus“ und die „Berliner Abendblätter“, die erste Tageszeitung Berlins, scheiterten grandios.

„Meine Seele ist so wund“

Nach einem ersten Zusammenbruch 1803 geriet Kleist später immer mehr in die Krise - entnervt von persönlichen Enttäuschungen, Zensur und immer neuen Betteleien nach Geld. An seine Cousine und Vertraute Marie von Kleist schrieb er 1811: „Meine Seele ist so wund, daß mir, ich mögte fast sagen, wenn ich die Nase aus dem Fenster stecke, das Tageslicht wehe thut, das mir darauf schimmert.“ Selbst seine Familie mit sechs Geschwistern und Halbgeschwistern, die immer ein Halt war, nannte ihn ein „nichtsnütziges Glied der Gesellschaft“.

In dieser Situation lernte Kleist die verheiratete Berlinerin Henriette Vogel kennen. An Gebärmutterkrebs erkrankt, war sie trotz ihrer kleinen Tochter bereit, das mit ihm zu tun, was andere befragte Frauen zuvor abgelehnt hatten: den Freitod zu suchen. Seiner Lieblings(halb)schwester Ulrike hinterließ Kleist einen Brief. "... du hast an mir gethan, ich sage nicht, was in Kräften einer Schwester, sondern in Kräften eines Menschen stand, um mich zu retten: die Wahrheit ist, daß mir auf Erden nicht zu helfen war." Am Ende von „Penthesilea“ heißt es: „Ach! Wie gebrechlich ist der Mensch, ihr Götter!“ Kleist war zerbrochen, an sich und der Welt.

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