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Immer mehr Unklarheiten

Die Umstände des Todes des libyschen Ex-Diktators Muammar al-Gaddafi müssen nach Ansicht der Vereinten Nationen untersucht werden. „Wir wissen nicht, wie er gestorben ist. Dazu muss es eine Untersuchung geben“, sagte der Sprecher des UNO-Hochkommissariats für Menschenrechte, Rupert Colville, am Freitag in Genf.

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Zuvor hatte Amnesty International eine offizielle Untersuchung der Todesumstände gefordert. Die neue Regierung müsse mit der „Kultur des Missbrauchs“ unter Gaddafi vollständig brechen und Menschenrechtsreformen durchsetzen, die das Land bitter nötig habe, hieß es. Die am Donnerstag aufgetauchten Amateuraufnahmen, die Gaddafi nach seiner Festnahme verwundet, aber am Leben zeigen, bezeichnete der UNO-Sprecher als „sehr beunruhigend“.

Videoaufnahmen als Beleg

Videoaufnahmen, die von den arabischen Fernsehsendern al-Arabija und al-Jazeera ausgestrahlt wurden, zeigten Gaddafi nach seiner Festnahme lebend inmitten von Kämpfern des Übergangsrats. Er war offenbar verletzt und hatte Blut auf Gesicht und Schultern. Ein Kämpfer schien ihm eine Pistole an den Kopf zu halten. Ob er abdrückte, war nicht zu erkennen. Anschließend war zu sehen, wie Gaddafi auf einen Pick-up gezogen wurde.

Colville verwies darauf, dass es bereits eine UNO-Kommission gebe, die sich mit der Menschenrechtslage in Libyen befasse. Sie dürfte auch die Untersuchung vornehmen. Vermutlich werde es zu einer internationalen Untersuchungskommission kommen. Der UNO-Menschenrechtsrat hatte immer darauf bestanden, dass im Konflikt in Libyen alle Seiten die Menschenrechte einhalten müssen. Dazu gehöre auch das Verbot willkürlicher Hinrichtungen.

Arzt: Gaddafi „aus nächster Nähe“ erschossen

Nach Einschätzung eines Arztes war Gaddafi durch „Schüsse aus nächster Nähe in Kopf und Bauch“ getötet worden. Ein Mediziner im Krankenhaus von Misrata, der Gaddafis Leiche untersucht habe, sei zu diesem Schluss gelangt, berichtete al-Arabija am Freitag. Das könnte auf eine Hinrichtung nach der Gefangennahme hindeuten. Laut offiziellen Angaben gab es keinen Befehl für Gaddafis Tötung.

„Übergaben ihn dem Sicherheitskomitee“

Ein Kämpfer der Milizen des Nationalen Übergangsrats, der nach eigenen Angaben am Donnerstag bei Gaddafis Festnahme in Sirte dabei war, stellte die Situation um Gaddafis Tod am Freitag in einem Gespräch mit al-Jazeera anders als der Arzt dar. Nach einem heftigen Feuergefecht mit seinen Leibwächtern am Zugang zu dem Abwasserrohr, in dem er sich versteckt hielt, habe sich Gaddafi ohne weitere Schwierigkeiten festnehmen lassen, sagte der Milizionär Osama al-Tajib.

„Wir übergaben ihn dem Sicherheitskomitee“, führte er weiter aus. „Doch dann brach ein Gefecht zwischen den Gaddafi-Loyalisten und den Revolutionären aus.“ Gaddafi sei dabei durch Schüsse in Kopf und Brust getroffen worden. „Wir legten ihn in einen Ambulanzwagen, ein Arzt machte Wiederbelebungsversuche, aber er starb.“

NATO-Bomben auf Gaddafi-Konvoi

NATO-Kampfflugzeuge hatten am Donnerstag den Konvoi des flüchtenden Gaddafi bombardiert, ohne zu wissen, dass Gaddafi in einem der Fahrzeuge saß. Das geht zumindest aus einer am Freitag von der NATO veröffentlichten Darstellung der Ereignisse hervor.

Demnach sei von den NATO-Flugzeugen ein Konvoi von etwa 75 Militärfahrzeugen in der Nähe der Stadt Sirte entdeckt worden. Zunächst sei ein einziges Fahrzeug beschossen worden, „um die Bedrohung zu verringern“. Daraufhin habe sich der Konvoi aufgeteilt, die gepanzerten Fahrzeuge seien in verschiedene Richtungen gefahren. Sie seien mit „einer erheblichen Menge von Waffen und Munition beladen“ gewesen.

„Beitrag zur Gefangennahme“

Eine Gruppe von 20 Fahrzeugen sei dann mit hoher Geschwindigkeit in Richtung Süden gefahren. NATO-Flugzeuge hätten daraufhin auf diese Fahrzeuge geschossen und etwa zehn davon zerstört. „Zur Zeit des Angriffs wusste die NATO nicht, dass sich Gaddafi in dem Konvoi befand“, heißt es in der Mitteilung der NATO. „Das Eingreifen der NATO war ausschließlich durch die Verringerung der Bedrohung für die Bevölkerung begründet.“

„Wir haben später durch offene Quellen und durch Aufklärung von Verbündeten erfahren, dass sich Gaddafi im Konvoi befand und der Angriff wahrscheinlich zu seiner Gefangennahme beigetragen hat“, heißt es in der NATO-Mitteilung. Das Bündnis machte keine Angaben über die Nationalität der beteiligten Flugzeuge.

Gaddafi-Sohn auf der Flucht

Zumindest ein Sohn Gaddafis dürfte entgegen den Meldungen vom Vortag nicht mit seinem Vater ums Leben gekommen sein: Saif al-Islam al-Gaddafi wurde laut dem arabischen TV-Sender al-Arabija mittlerweile auf der Flucht in Richtung Niger gefasst. Am Donnerstag hatte es noch geheißen, Saif al-Islam und sein Bruder Mutassim seien ebenfalls getötet worden.

Spekulationen über Geheimbestattung

Die Beerdigung Gaddafis wird sich nach Angaben der Übergangsregierung noch um einige Tage verzögern. Ein Termin stehe noch nicht fest, sagte der Ölminister des Übergangsrats, Ali Tarhuni, am Freitag. Es sei beschlossen worden, den Leichnam noch für einige Tage aufzubewahren, damit sich jeder davon überzeugen könne, dass Gaddafi tot sei, sagte Tarhuni der Nachrichtenagentur Reuters. Derzeit befinde sich die Leiche in Misrata.

Eine Entscheidung darüber, wo Gaddafi beigesetzt werden soll, sei noch nicht gefallen, hieß es von der Übergangsregierung. Zunächst hatte es geheißen, der am Vortag getötete Gaddafi solle noch am Freitag beigesetzt werden. Britische Medien berichten allerdings bereits von einer Geheimbeisetzung Gaddafis. Auch könnte Gaddafi wie Terrorpate Osama bin Laden auf See beerdigt werden.

Hunderte bei Gaddafis Leiche

Nach einem Bericht der „New York Times“ wurde Gaddafis Leichnam in Misrata von Hunderten Menschen angeschaut. Feiernde Soldaten der Übergangsregierung gaben unterdessen die Trophäen der Festnahme von Hand zu Hand weiter - Gaddafis goldene Pistole, sein Satellitentelefon, seinen braunen Schal und einen schwarzen Stiefel.

Ein Kämpfer der libyschen Übergangsregierung hält eine goldene Pistole in die Luft.

APA/EPA/Guillem Valle

Gaddafis goldene Waffe wird als Kriegstrophäe präsentiert

Libyen soll für befreit erklärt werden

Der Übergangsrat will am Samstag Libyen für „befreit“ erklären. Das soll in feierlichem Rahmen erfolgen, berichtete al-Jazeera in der Nacht auf Freitag. Innerhalb von 30 Tagen soll eine provisorische Regierung gebildet werden. Deren Aufgabe wird es sein, eine verfassungsgebende Versammlung einzuberufen und freie, demokratische Wahlen vorzubereiten. Der Übergangsrat werde außerdem sein Hauptquartier von Bengasi, wo vor acht Monaten der Volksaufstand gegen Gaddafi begann, in die Hauptstadt Tripolis verlegen.

NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen kündigte nun ein rasches Ende des Einsatzes in Libyen an. Die NATO werde den seit Ende März laufenden Einsatz in Abstimmung mit der UNO und dem Nationalen Übergangsrat beenden, hieß es in einer Erklärung Rasmussens vom Donnerstagabend in Brüssel.

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