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Wahlkampf in Sozialen Netzwerken

Wenn am Sonntag in Tunesien die erste freie Wahl in der Geschichte des Landes stattfindet, entscheiden die Bürger nicht nur über die Zukunft ihres eigenen Landes, sondern auch über die Zukunft des „arabischen Frühlings“. Die Demokratiebewegung, die vor zehn Monaten in Tunis ihren Ausgang nahm, muss sich einer ersten großen Bewährungsprobe stellen.

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Fast zehn Monate nach dem Sturz von Machthaber Zine el-Abidine Ben Ali soll mit der Berufung einer verfassungsgebenden Versammlung der Grundstein für eine demokratische Zukunft des Landes gelegt werden. 110 Parteien, 1.570 Wahllisten und rund 11.000 Kandidaten stellen sich zur Wahl. Damit der Wahlkampf nicht völlig ausartet, wurden im Vorfeld Anzeigenkampagnen und Umfragen verboten. Auch Werbetafeln auf den Straßen und Plätzen wurden streng limitiert.

Wahlkampfschlacht via YouTube

Dadurch verlagerte sich der Wahlkampf automatisch ins Internet, und dort vor allem in die Sozialen Netzwerke, wie CNN berichtete. Insbesondere ein kurzes Onlinevideo sorgte für große Aufregung und zeigt gleichzeitig das Dilemma, in dem sich die Wähler im Moment befinden. Der 45 Sekunden lange Film mit dem Titel „Der Tag danach“ zeigt eine Frau, die mit ihren beiden Kindern auf der Couch sitzt.

Die Protagonistin erzählt von einer Zeit, nachdem die Islamisten die Wahl gewonnen haben. „Ich habe meinem Mann geglaubt und bin ihm gefolgt“, so die Frau. „Nach ein paar Monaten haben sie das Gesetz geändert. Er hat zwei andere Frauen geheiratet. Ich habe das Glück meiner Familie verspielt.“

Scharia versus Polizeistaat

Umgehend stellten die tunesischen Islamisten ihre Version online. Wieder sitzt die Frau auf der Couch und erzählt von der Zeit nach der Wahl. Diesmal unter der Annahme, die säkularen Vertreter hätten gewonnen. Nun zeichnet sie das düstere Bild eines Polizeistaates. „Sie kamen in mein Büro und befahlen mir, das Kopftuch abzunehmen, sonst würde ich meinen Job verlieren“, beklagt sich die Frau. Damit werden alte Wunden aufgerissen, denn im Regime unter Ben Ali fanden verschleierte Frauen nur schwer Arbeit.

Ein Bub mit der Fahne der Islamistischen Partei

AP/Francois Mori

Vor allem unter Frauen findet die islamistische Partei Ennahdha viele Anhänger

Fundamentalisten im Aufwind

Diese zwei Videos versinnbildlichen gut die größte Herausforderung, der sich die neue Nationalversammlung stellen muss: die Rolle des Islam in einem neuen Tunesien. Seit der Revolution spüren Fundamentalisten, die unter Ben Ali in den Untergrund abtauchen mussten, wieder Aufwind. Im Wahlkampf sorgten sie vor allem mit gewaltsamen Protestaktionen für Aufsehen.

Ausschreitungen wegen Animationsfilms

Zuletzt kam es Anfang Oktober nach der Ausstrahlung des Animationsfilms Persepolis zu bewaffneten Straßenschlachten. In dem preisgekrönten französischen Film wird Gott als Figur dargestellt, was Muslime als Gotteslästerung empfinden. Bewaffnete Extremisten griffen die TV-Station und das Haus des Sendereigentümers an. Die Polizei setzte Tränengas ein.

Die stärkste Gruppierung unter den islamistischen Kräften, die Ennahdha-Partei, verurteilte die gewaltsamen Ausschreitungen zwar, unterstützte aber gleichzeitig den Protest und bezeichnete den Film als provokativ. Ennahdha werden die größten Chancen bei der Wahl eingeräumt. Zwar gehen Beobachter nicht von einem Wahlsieg aus, aber das Erstarken einer islamistischen Partei im Mutterland des „arabischen Frühlings“ könnte auch anderen Gruppen in Nordafrika Auftrieb geben.

Türkei als großes Vorbild

Der Kopf hinter Ennahdha ist Rached Ghannouchi. Als die Partei Anfang der 90er Jahre verboten wurde, wurden 30.000 Anhänger eingesperrt und Ghannouchi in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Er lebte bis zu seiner Rückkehr im Frühjahr dieses Jahres in London. Er versucht den Spagat zwischen Islam und Demokratie nach dem Vorbild der Türkei auch in Tunesien umzusetzen. Er verspricht die Zusammenarbeit mit anderen Parteien und die Wahrung von Frauenrechten. Letzteres brachte ihm vor allem in der weiblichen Bevölkerung viel Zulauf.

Der Ennahdha gegenüber steht unter anderem die Demokratische Fortschrittspartei (PDP) von Ahmed Nejib Chebbi - unter Ben Ali als legale Opposition toleriert. Chebbi will sie als „soziale Zentrumspartei“ positionieren. Die Kommunistische Arbeiterpartei (PCOT) schickt mit der Bürgerrechtsanwältin Radia Nasraoui eine Frau als Spitzenkandidatin ins Rennen. Streng laizistisch ausgerichtet sind auch die Parteien Ettajdid und Ettakatol.

Medienverbot für Politiker

In den Medien des Landes war vor der Wahl vergleichsweise wenig von dem Machtkampf der zwei großen Blöcke zu bemerken. Auch weil es der mittlerweile freien Presse untersagt war, Politiker zu interviewen. Die Übergangsregierung begründete diesen Schritt damit, dass man so verhindern wolle, dass sich wohlhabende Parteien bei den Medien einkaufen. Stattdessen bekam jeder Kandidat vor der Wahl einen dreiminütigen TV-Auftritt.

Die säkularen Parteien protestierten gegen diese Regelung, da sie sich vor allem gegenüber der Ennahdha im Nachteil fühlten. Zwar existierte die Partei viele Jahre nur im Untergrund, doch vor allem am Land ist sie tief verwurzelt und verbreitet ihre politischen Forderungen über Moscheen bei dem Volk.

Arbeitslosigkeit als Knackpunkt

Doch abgesehen von der religiösen Ausrichtung wird sich vor allem der durchsetzen können, der die hohe Arbeitslosigkeit in den Griff bekommt. Jeder fünfte Tunesier hat keinen Job, und die Lage hat sich seit der Revolution weiter verschlimmert. Auch wenn ein Drittel der Tunesier islamische Werte für wichtig erachtet, so nannten doch fast 60 Prozent die Arbeitslosigkeit - die letztlich auch zu den Unruhen im Dezember 2010 führte - als wichtigstes Ziel für eine neue Regierung. Viele erhoffen sich durch die neue Regierung wirtschaftlichen Aufschwung und eine Stärkung des Tourismus. Und genau deswegen könnte den islamistischen Strömungen doch noch ein Riegel vorgeschoben werden.

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