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„Kriegerische Komplizenschaft“

Einen möglichen neuen Historikerstreit hat der „Spiegel“ in diesem Sommer heraufziehen sehen und auf das Buch des US-Historikers Timothy Snyder, „Bloodlands“, verwiesen. Darin bezieht der Autor die Massenmorde unter Stalin und Hitler in einer bestimmten Region Europas direkt aufeinander. Am Donnerstag stellt Snyder die deutsche Übersetzung des vieldiskutierten Werks in Wien vor.

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Es ist eine „Geografie der Opfer“, die das Ordnungsprinzip von „Bloodlands“ vorgibt. Mehr noch: Das Buch zeigt, wie diese beiden Diktaturen durch strategische Erwägungen beim Morden Komplizen waren - und gerade die Zivilbevölkerung einer bestimmten Region den Preis dieser verbrecherischen Politik zahlen musste. Snyder scheint mit seinem neuesten Buch einen Gedanken des Historikers Karl Schlögl aufzugreifen, der ja in der räumlichen Betrachtung von historischen Prozessen die Chance auf neue Erkenntnisse (auch zu teils bekanntem Material) sieht.

Snyder, Professor in Yale und Fellow am Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen (wo er am Donnerstag, 20.10., um 18.00 Uhr sein Buch vorstellen wird), nimmt jene Zone Europas, in der sich zwischen 1933 und 1945 die meisten Massenmorde ereigneten, in den Blick. Seine „killing fields“ sind Gebiete Polens, der Ukraine, Weißrusslands und der baltischen Staaten.

14 Millionen zivile Opfer

14 Millionen Menschen fielen in dieser Region den von Hitler und Stalin befohlenen Massenmorden zum Opfer. Und in dieser Zahl ist noch kein einziger Soldat enthalten, wenngleich die Hälfte der im Zweiten Weltkrieg gefallenen Soldaten auch in dieser Region ums Leben gekommen sind. Massenmord und Genozid fanden statt, als Nationalsozialismus und Stalinismus ihre Macht konsolidierten. Das Massentöten war Teil dieser Machtkonsolidierung, zunächst unter Stalin, danach, als Hitler mit Gewalt expandierte, in noch größerem Umfang durch die Nationalsozialisten.

Der Historiker Tim Snyder während einer Veranstaltung am IWM WIen

Philipp Steinkellner

Historiker Snyder: Nazis und Sowjets mordeten in den „Bloodlands“ in „einem Muster kriegerischer Komplizenschaft“

Erster „Genozid“ unter Stalin

Zunächst fällt bei Snyder der Blick auf Stalin. Die Zwangskollektivierung, sein Vorgehen gegen die Bauern in der Ukraine, die große Hungersnot 1933 (die in Teilen der Ukraine sogar Kannibalismus hervorbrachte und zu einer besorgten Anfrage des damaligen Wiener Kardinals Theodor Innitzer führte, wie Snyder erinnert). Snyder zitiert den polnisch-jüdischen Juristen und später maßgeblichen UNO-Völkerrechtler Raphael Lemkin, der als Schöpfer des Begriffs Genozid das Vorgehen in der Ukraine 1933 als „klassisches Beispiel eines sojwetischen Genozids“ bezeichnete.

Veranstaltungshinweis

Timothy Snyder präsentiert und diskutiert über sein neues Buch „Bloodlands“ am Donnerstag um 18.00 Uhr am Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen.

Snyder verdeutlicht, dass unter Stalin bis 1938 deutlich mehr Menschen ermordet wurden als unter den Nazis, dass die öffentliche Gewalt der Nazis in der Zeit medial allerdings deutlich stärker wahrgenommen wurde als die der Sowjets. „Im ‚Großen Terror‘“, so erinnert Snyder, „hatte die Sowjetunion doppelt so viele Sowjetbürger ermordet, wie Juden in Deutschland lebten, aber niemand außerhalb der UdSSR, nicht einmal Hitler, schien begriffen zu haben, dass Massenerschießungen dieser Art möglich waren.“

Gespiegelte Mordkampagnen

1939, als Deutsche und Russen in Polen einmarschierten, hätten Sowjets und Nazis aus unterschiedlichen Ideologien heraus eine „Zerstörung der Aufklärung“ betrieben. „Als die Sowjets im Frühjahr 1940 21.892 polnische Offiziere und andere Gefangene in Katyn und an vier anderen Orten hinrichteten, spiegelten sie eine gleichzeitige deutsche Mordkampagne auf der anderen Seite.“

Snyder verweist im Kapitel „Molotow-Ribbentrop-Europa“ darauf, wie die Aufteilung Polens durch Nazis und Sowjets von unterschiedlichen Prämissen startete. Konnten sich die Sowjets im Osten als Befreier gerieren und relativ leicht ihr System einer lückenlosen Neuregistrierung der Bevölkerung (was auch hinsichtlich des Nachweises einer ethnischen Zugehörigkeit eine nicht unbeträchtliche Rolle spielte) einführen, hatten die Nazis nach dem Überfall auf Österreich und die Tschechoslowakei das Reich „noch nie um Gebiete mit so großer nichtdeutscher Bevölkerung“ zwangserweitert.

Auch nach dem Bruch des Hitler-Stalin-Pakts durch die Nazi-Invasion der Sowjetunion 1941 hätten beide Seiten Zivilisten „in einem Muster kriegerischer Komplizenschaft“ ermordet: So hätten die Sowjets im deutsch besetzten Weißrussland zum Partisanenkampf ermutigt, die Deutschen hätten im Gegenzug darauf über 300.000 Menschen hingerichtet, erinnert Snyder. Auch in Warschau hätten die Sowjets die Polen zunächst zum Aufstand ermutigt „und sahen dann ohne Eingreifen zu, wie die Deutschen über 100.000 Polen töteten und danach die Stadt zerstörten“.

Der Historikerstreit

„Vollbrachten die Nationalsozialisten, vollbrachte Hitler eine ‚asiatische‘ Tat vielleicht nur deshalb, weil sie sich und ihresgleichen als potenzielle oder wirkliche Opfer einer ‚asiatischen‘ Tat sahen? War nicht der ‚Archipel Gulag‘ ursprünglicher als Auschwitz?“, hatte der Historiker Ernst Nolte vor einem Vierteljahrhundert gefragt und damit eine heftige Entgegnung von Jürgen Habermas und anderen Philosophen und Historikern erhalten.

Mörderische Erkenntnisse für Hitlers Helfer

„Hitlers Helfer“, so schreibt Jörg Baberowksi, selbst Professor für Osteuropäische Geschichte an der Humboldt-Universität, in einer Rezension zu Snyders Buch in der „Zeit“, „mussten erst lernen, wie man Völker deportierte, Menschen erschoss oder vergaste“. Hitler und seine Generäle hätten aber schon im zweiten Kriegsjahr begriffen, dass, wer einen Vernichtungskrieg beginnt, selbst damit rechnen musste, vernichtet zu werden - „weil auch Stalin keinen Zweifel daran ließ, dass auch er einen Vernichtungskrieg führt“.

Aber, so Baberowski: Man wüsste gerne mehr zum letztlich doch offenen Punkt, wie sehr Hitlers Soldaten, die Polizeibataillone oder die SS von den „sowjetischen Handwerkern des Todes lernten“. Die wechselseitige Durchdringung des Handwerks des Tötens will Baberowski stärker herausgearbeitet sehen. Synder erzähle letztlich, was andere vor ihm auch schon wussten.

Bruch mit einem Grundkonsens?

Dennoch: Snyder rüttelt mit seinem Buch an einer lange währenden Grundfeste vor allem in der deutschen Geschichtsdisziplin. Es war der Historikerstreit von 1986, der für längere Zeit die Auffassung zementierte, dass man die Mordtaten der Regime Hitlers und Stalins nicht aufeinander beziehen dürfe, da man sonst die Einzigartigkeit des Holocausts infrage stelle.

Buchcover: "Bloodlands, Europa zwischen Hitler und Stalin" von Timothy Snyder

Verlag C.H.Beck

Buchhinweis

Timothy Snyder: Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin. Übersetzt von Martin Richter. C. H. Beck, 523 Seiten, 30,80 Euro.

„Im Historikerstreit hatte jeder Unrecht“, meinte Snyder erst diese Woche in einem Interview mit dem „Standard“: „Jürgen Habermas (der prominenteste Wortführer gegen Ernst Nolte, Anm.) hatte seinerzeit einen Rahmen vorgeschrieben, innerhalb dessen die Diskussion stattzufinden hatte. Es gab also eine ideologische Zensurhaltung, kombiniert mit relativ wenig Sachwissen.“ Seitdem, so Snyder, habe es in Deutschland einen unglaublichen Fortschritt gegeben, schon was „den Zuwachs an Wissen über jene Zeit angeht“.

Die Arbeit am Thema der „Bloodlands“ habe gezeigt, dass „der Holocaust bei weitem das schlimmste Verbrechen war, nicht nur wegen des Rassenmotivs, sondern weil mehr Menschen darin umgekommen sind als in jedem anderen deutschen oder sowjetischen Verbrechen“. Das könne man aber nur sagen, wenn man alle Verbrechen betrachte. „Man soll sie alle betrachten, damit man sie werten und gewichten kann“, so Snyder.

Gerald Heidegger, ORF.at

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