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Freier Datenfluss für den Fortschritt

Tim Berners-Lee, Erfinder des World Wide Web, hat sich Anfang Oktober in Wien für einen sensibleren Umgang mit Daten im Netz ausgesprochen. Soziale Netzwerke wie Facebook sind für ihn „Datensilos“, die es aufzubrechen gilt. Auch Regierungen sollten statistische Daten freigeben. Nur mit totaler Anonymität im Netz hat Berners-Lee ein Problem.

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Als die Fotografen in der ersten Reihe ihre großen Zoomobjektive auf ihn richten und die Spiegelreflexkameras im Serienbildmodus rattern lassen, zuckt Sir Tim erst leicht zusammen, greift aber dann ins Sakko und kontert den Angriff, indem er mit seinem iPhone spielerisch zurückfotografiert.

Das Gerät in seiner Hand ist die neueste Herausforderung an Berners-Lees stärkste Idee, das World Wide Web als System für den freien Austausch von Informationen und in Software geronnenen Träumen. Geschlossene Plattformen wie Apples iTunes Music Store, streng kontrollierte Mobilfunknetze und Facebook versprechen dem Publikum einfachen Konsum und den Konzernen schnellen Profit.

Tim Berners-Lee

Tim Berners-Lee studierte Physik in Oxford. Er erfand 1989 das World Wide Web, ein Hypertext-Informationssystem, das über das Internet funktioniert. 1990 veröffentlichte er die erste WWW-Software, darunter den ersten Server und den ersten Browser. Berners-Lee ist seit 1994 Direktor des World Wide Web Consortium (W3C), in dem die technischen Standards für das Web festgelegt werden. Seit 2009 ist er Direktor der gemeinnützigen Stiftung World Wide Web Foundation, die dabei helfen soll, das Web zum Wohl der Menschheit weiterzuentwickeln. Berners-Lee hat Lehrstühle am Massachusetts Institute of Technology (MIT) und an der Universität Southhampton.

Datensilo Facebook

„Facebook funktioniert derzeit noch wie ein Datensilo“, so Berners-Lee, der auf Einladung der Telekom Austria Group nach Wien gekommen ist. „Die Nutzer kriegen ihre Daten nur schwer wieder heraus, auch wenn es offene Schnittstellen gibt.“ Der Gegenentwurf des Web-Erfinders: ein System, in dem der Nutzer die Kontrolle über seine Daten behält und an einem Ort speichert, der ihm gehört. Verschiedene Anwendungen sollen dann auf diese Daten zugreifen können, wenn der Nutzer es wünscht.

Angst, dass Platzhirsche wie Google und Facebook irgendwann das Netz ganz beherrschen könnten, hat der 2004 von der Queen in den Ritterstand erhobene Brite nicht. Auf die Frage von ORF.at, ob er die weitgehend geschlossene Plattform Facebook überhaupt noch als Teil des Webs betrachte, antwortete er mit einem schlichten: „Ja, gewiss.“ Facebook sei zwar groß und sie hielten die Daten ihrer Nutzer unter strenger Kontrolle. Aber es gebe auch im Sozialen Netz noch Wettbewerb, und der sei nicht zu unterschätzen.

„Das Netz hat sich immer gerade dann radikal geändert, wenn sich die Leute die meisten Sorgen über eine Monopolisierung gemacht haben“, so Berners-Lee. Als Direktor des W3C-Konsortiums, das die Regeln und Standards für das Web festschreibt, hat er schon viele Möchtegern-Webherrscher kommen und gehen sehen, darunter immerhin Microsoft, das im „Browserkrieg“ der 1990er Jahre nur einen Pyrrhussieg erringen konnte.

Begründer des World Wide Web, Tim Berners-Lee

ORF.at/Günter Hack

Tim Berners-Lee schießt zurück

Netzneutralität sichern

Facebook könnte schon bald von einem anderen System abgelöst werden, sagt Berners-Lee: „Jeden Augenblick wird im Netz eine neue Idee geboren.“ Damit der Wettbewerb aber gegen die vorübergehenden Quasi-Monopolisten eine Chance hat, muss der Staat die Rahmenbedingungen sichern.

Berners-Lee verwies dabei auf die Niederlande, die unlängst die Netzneutralität - also das Recht auf gleichberechtigten Datentransport im Netz - gesetzlich festgeschrieben haben. „Auch die österreichische Regierung sollte sich mit diesem Thema befassen“, sagt der Web-Erfinder. Damit, dass für schnellere Verbindungen zum Netz mehr Geld gezahlt werden müsse als für langsame, hat Berners-Lee aber kein Problem.

Transparenz durch offene Daten

Der Physiker würde sich auch wünschen, dass mehr Staaten ihre Regierungsdaten ins Netz stellten, um mehr Transparenz zu schaffen. 2009 beriet er die britische Regierung dabei, wie sie nicht personenbezogene staatliche Daten im Rahmen ihrer Open-Data-Initiative am besten frei im Netz zur Verfügung stellen kann.

Auf dem Regierungsdatenportal data.gov.uk, das im Jänner 2010 ans Netz ging, finden sich unter anderem kostenlos verfügbare Rohdatensätze zu den Ausgaben von Kommunen, Bevölkerungsstatistiken und digitales Kartenmaterial. Diese Informationen können beispielsweise von Dienstleistern weiterverarbeitet oder im Rahmen journalistischer Berichterstattung zur automatisierten Erstellung von Infografiken dienen.

Kontrolle für Bürger und Staat

"Sowohl (der ehemalige Labour-Premier, Anm.) Gordon Brown als auch David Cameron haben sich für das Projekt eingesetzt. Es braucht viel Unterstützung von oben und auch aus den Behörden, um die Daten ins Netz zu bekommen. Die dadurch geschaffene Transparenz ermögliche es Bürgern, Journalisten und nicht zuletzt dem Staat selbst, präzisere Kontrolle über das Budget auszuüben. „Früher war es schwer, den Geldfluss von einer Behörde zu einem bestimmten Konzern nachzuvollziehen. Eine große Firma konnte unter mehreren Namen auftreten. Jetzt hat sie im System eine einzige Identität und man kann besser nachvollziehen, wie viel Geld sie durch staatliche Aufträge lukriert hat“, sagt Berners-Lee.

Open Data könnte auch eine wichtige Rolle im Umweltschutz spielen. Wenn viele Staaten ihre Klima- und Umweltdaten frei und aktuell ins Netz stellen würden, dann könnte man schneller mehr Wissen über den Zustand der Erde sammeln und hätte eine Basis für weiteres Handeln.

Sicherheit und Anonymität

Als Probleme im derzeitigen Web sieht Berners-Lee vor allem die Sicherheit und die Stabilität. Es müsse bessere Mechanismen zur Ausbalancierung plötzlich auftretender Datenfluten wie verteilte Attacken von Botnetzen auf Webserver geben. Außerdem seien die Mechanismen zur verschlüsselten Kommunikation noch unzureichend.

Während sich Netzexperten wie die US-amerikanische Social-Media-Spezialistin Danah Boyd nachdrücklich für die Möglichkeit anonymer oder pseudonymer Kommunikation im Internet ausgesprochen haben, sieht Tim Berners-Lee den Sachverhalt anders. Die Sozialen Netzwerke Facebook und Google+ verfolgen die Klarnamenpolitik: Wer sich nicht mit seinem echten Namen anmeldet, muss damit rechnen, gelöscht zu werden. Das ist umstritten, auch deshalb, weil Menschen, die in totalitären Regimes leben, nur unter Verwendung eines Pseudonyms ihre Meinung im Netz äußern können.

Streit über User-Tracking

„Es gibt auch Fälle, in denen die Anonymität missbraucht wird“, stellt er fest. „Jeder ist für die Anonymität im Netz, wenn er sich selbst damit geschützt wird, aber wenn wir von Anonymen angegriffen werden, dann wollen wir doch deren Identität wissen.“

Umstritten ist auch die Rückverfolgung von Nutzerbewegungen im Netz durch Werbefirmen, das Tracking. Die US-Handelsbehörde FTC übt in dieser Frage Druck auf Berners-Lees Standardisierungskonsortium W3C aus, sie verlangt, dass es Nutzern möglich sein soll, aus dem Tracking auszusteigen.

Seit September gibt es am W3C eine Arbeitsgruppe, in der sich Vertreter von Browserherstellern, Softwarefirmen und Werbeindustrie darüber streiten, wie ein solcher „Do Not Track“-Mechanismus aussehen könnte. Unter anderem stehen verschiedene technische Ansätze von Microsoft, Firefox-Hersteller Mozilla und Google zur Debatte. Welchem der drei Ansätze Sir Tims Sympathie gilt, wollte er ORF.at nicht verraten - er verwies darauf, dass er als Direktor des Gremiums zur Neutralität verpflichtet sei. Es sei aber wichtig, in dieser Frage schnell zu einer Einigung zu kommen.

Günter Hack, ORF.at

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