Themenüberblick

Hermanis und das Spiel der Projektionen

Wenn ein Text derart viel Spielraum für Projektionen eröffnet wie Arthur Schnitzlers „Das weite Land“, dann könnte er doch, gerade was die Motivation von Handlungen anbelangt, wie ein Kinofilm erzählt werden. Die Verbindung von Gesellschafts- und Seelenanalyse des Bühnenklassikers lagert Regisseur Alvis Hermanis mit seiner Burgtheater-Inszenierung in die Bildwelt eines Hollywood-Films der 40er und 50er Jahre aus.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr.

„Das weite Land“ in einem Patchwork aus „The Maltese Falcon“ und alter Hitchcock-Klassiker sucht vor allem Bildlösungen zu den verborgenen Triebkräften zwischenmenschlicher Beziehungen.

„Die Seele ist ein weites Land.“ Es ist der Hoteldirektor und im Stück als „Poseur“ bezeichnete Doktor von Aigner, dem der berühmteste Satz
aus dem Stück in den Mund gelegt wird. Philosophen und Ethiker sind eigentlich Randerscheinungen in dieser Welt, die gar nicht mehr „aus den Fugen“ sein kann, weil jede Grenze verflüssigt scheint (ein Schelm, wer hier an die Gegenwart denkt).

Soll lieben, wer lieben mag - über die Grenzen von Ehen und Beziehungen hinweg. Und doch: Der Pianist Korsakow hat sich umgebracht - und die Gesellschaft rätselt über die Gründe seines Todes. Aus „gekränktem Ehrgeiz“ wegen seines Klavierspiels wie Frau Wahl vermutet? Oder war es, wie der Fabrikant Friedrich Hofreiter mit Blick auf den letzten Brief des Pianisten sicher ist, die unglückliche, weil unbeantwortete Liebe zu seiner Frau Genia? Teils bösartige Gerüchte durchziehen den Raum - etwa, dass der Pianist Opfer eines „amerikanischen Duells“ geworden sei.

Dörty Lyssewki auf Tüchfühlung zu Peter Simonisck

APA/Georg Hochmuth

„Als würdest du den Tod von Korsakow gegen mich ausspielen“: Peter Simonischek und Dörte Lyssewski als Friedrich und Genia Hofreiter

Schatten und Schimären

Mutmaßungen über andere und über sich selbst bestimmen den Text von Schnitzler. Und Regisseur Hermanis, der selbst das grau gehaltene Bühnenbild ausgetüftelt hat, entscheidet sich für die dicke Projektion aller Mutmaßungen als Schatten und Schimäre auf die Wände der Hofreiter’schen Villa. Die Tragikomödie des Ausgangstexts ist hier zum Melodram geworden, das nach dauernder Steigerung schreit.

Durch die halboffene Jalousie und starkes Außenlicht kündigen sich immer die nächsten Schritte in diesem Verwicklungsspiel an - und Friedrich und Genia Hofreiter, dargestellt von Peter Simonischek und Dörte Lyssewski, sind der Mittelpunkt dieses Gesellschafts- und Beziehungsspiels. Hofreiter ist zum notorischen Fremdgänger geworden, der seine Menschenkenntnis gerne auf den Pfad des Zynismus’ ladet. „Man sollte zwischenmenschliche Beziehungen mehr auf Sehnsucht denn auf Gewohnheit gründen“, räsoniert er in Gesellschaft wenig schmeichelhaft vor den Ohren seiner Frau.

Verstrickungen in dünner Alpenluft

Von der Affäre mit der Bankiersgattin Adele (Stefanie Dvorak) bricht er mit seinem „Freund“, dem Arzt Mauer, zu einer Bergtour auf, die er seiner Frau gegenüber mit den Worten rechtfertigt, dass sie ihn mit ihrer Tugendhaftigkeit überfordere. Wegen dieser Tugendhaftigkeit hätte immerhin ein Mensch, der Pianist Korsakow, sterben müssen.

Tatsächlich wird Hofreiter in der dünnen Luft der Alpen in das nächste Liebesabenteuer mit der jungen Erna Wahl (Katharina Lorenz), die eigentlich die Sehnsucht seines Freundes Mauer ist, stolzieren.

Falk Rockstroh als "Doktor Franz Mauer", Peter Simonischek als "Friedrich Hofreiter" und Dörte Lyssewski als "Genia"  sitzen und lachen

APA/Georg Hochmuth

Doktor Mauer und das Ehepaar Hofreiter - oder die Kunst, alle Konflikte zu überspielen

Die platinblonde Diva

Genia Hofreiter als überspannte Hollywood-Diva mit platinblondem Lockenhaar bleibt zurück. Abhängig von der Welt des Mannes, zugleich selbst voller Abgründe und doch immer wieder souverän als Frau, kennt sie neben der Sehnsuchtsgestalt auch die Rolle der Mutter, die sie im Dialog mit Frau Meinhold (Corinna Kirchhoff), selbst Mutter des Otto von Aigner, in einem „Miniphilosophicum“ durchdekliniert.

Können die Mütter ihre Söhne in die Welt ziehen lassen? Man müsse, rät die Schauspielerin Frau Meinhold. Doch dass ausgerechnet Genia die Nemesis ihres Sohnes Otto werden sollte, hat Frau Meinhold nicht auf der Rechnung. Otto von Aigner verfällt Genia - doch während sie geordnet den Rückzug aus der Liaison mit dem Marine-Fähnrich antritt, hat ihr Mann schon vom Verhältnis erfahren. Plötzlich tritt ein, was in der Gesellschaft scheinbarer Liberalität nicht vorgesehen ist: gekränkter Stolz und gekränkte Eitelkeit. Und ausgerechnet der junge Mann muss durch die Hand des alternden Hahnreis sterben.

Verbildlichte Triebkräfte

Hermanis möchte bei Schnitzler auf die Welle der Triebkräfte aufsteigen. Doktor Mauer, dem Falk Rockstroh zur vielleicht interessantesten Gestalt in dieser Inszenierung verhilft, führt jedes Gespräch auf der Couch und ist Hypnotiseur und Magnetist dieser immer auch im Zynismus Schutz suchenden Gesellschaft. Vernunft soll hier mitunter Begierde zügeln. Diese Rolle scheint Mauer und Genia zugedacht. Und so lässt Mauer als Alter Ego des Arzt-Autors Schnitzler die Gesellschaft durch die Nächte traumwandeln.

Stefanie Dworak als Adele Natter vor einer Jalousie und Händen, die durch die Jalousie auf sie greifen

APA/Georg Hochmuth

Die Begierden der Bankiersgattin Adele Natter (Stefanie Dvorak)

Wild und sehr bildlich wird auf der Drehbühne bei Hermanis vor den Augen des Publikums geträumt. Die silbergrauen Stoffe der Damenkleider spannen sich, ein Hauch von Erotik bricht immer über lasziv hervorgestreckte Beine durch - und doch kommt nichts der Verwirklichung nahe. Platinblonde Genien durchstreifen den somnabulen Nachtraum Raum. Mitunter wirkt das so aufdringlich, dass man sich fürchten muss, hier wären einem Palmers-Plakat die Models entlaufen.

Wie viel Hitchcock kann Schnitzler vertragen?

Das große Dilemma von Hermanis ist die Sehnsucht, gerade dem Traum - mit dem Mittel des Theaters und unter zu Hilfename der Filmikonografie - sichtbare Gestalt verleihen zu wollen. Dass er dabei den Hollywood-Film und Hitchcock-Versatzstücke als Vehikel heranzieht, nimmt dem Stück die Luft.

Katharina Lorenz als "Erna" und Dörte Lyssewski als "Genia vor einem hellen großen Fenster mit Vorhang. Lyssewski greift Lorenz an die Brust

APA/Georg Hochmuth

Permanente Grenzüberschreitung: Genia und die neue Geliebte ihres Mannes, Erna Wahl (Katharina Lorenz)

Permanente musikalische Untermalung lässt die Wirkung der Schauspieler am Bühnenrand verpuffen - und wenn dann noch Cole-Porter-Nummern den Rest von Liebe in diesem Film-Noir-Setting illustrieren sollen, darf man sich im Publikum so fühlen, als hätte man sich an amerikanischen Cupcakes überessen.

Ausgangsintentionen des Stücks gehen im Lauf des Abends verloren. Denn wenn Friedrich Hofreiter über die Konsequenzen des Duells am Ende des Stücks räsoniert, dann ist der Raum zwischen Gesetz und privatisierbaren Gesellschaftscodes bei Hermanis längst verlassen. Hier ist man in eine Schattenwelt abgetaucht, in der ohnedies ganz eigene Gesetze zu gelten scheinen und der Verweis auf gesellschaftliche Verbindlichkeit überflüssig wirkt.

Auch die Illustration der dunklen Gasse, in der das fatale Duell stattfindet, nimmt dem Stück den Reiz: Schnitzler ist auf dem Theater der Meister der Vorstellungskraft und des Botenberichts. Die Imagination entreißt Hermanis seinem Publikum. Und wenn am Ende für Wiener Verhältnisse mehr als deutlich gebuht wurde, dann vielleicht auch deshalb, weil hier jemand derart brachial in den Vorstellungsraum der Zuschauer eingebrochen ist. Nicht nur die Seele, auch die Assoziationskraft darf ein weites Land sein.

Gerald Heidegger, ORF.at

Links: