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Machtdemonstration mit Tücken

Der türkisch-israelische Streit um Hilfslieferungen für den unter israelischer Blockade stehenden palästinensischen Gazastreifen verschärft sich. Künftig sollen Kriegsschiffe die Lieferungen sichern, kündigte der türkische Regierungschef Recep Tayyip Erdogan letzte Woche an. Erdogans selbstbewusstes wie forsches Auftreten - nicht nur gegenüber Israel - sorgte zuletzt immer wieder für Aufsehen.

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Er reagierte mit Drohgebärden nicht nur gegen Israel, wie die Deutsche Nachrichtenagentur (dpa) auflistet: Vom armenischen Präsidenten Sersch Sargsjan verlangte er eine öffentliche Entschuldigung, weil dieser vom „westlichen Armenien“ gesprochen hatte, einem Gebiet, das heute zur Türkei gehört. Noch im vergangenen Jahr stand die Öffnung der gemeinsamen Grenze auf der Tagesordnung.

Auch die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel ist ihm demnach eigentlich noch eine Entschuldigung schuldig, so forderte es Erdogan, weil sie die griechischen Zyprer gelobt, von der türkischen Seite aber mehr Bewegung im Konflikt um die geteilte Mittelmeerinsel verlangt hatte. Und in Auseinandersetzungen um Ölförderungen der Zyprer im Mittelmeer drohte Europaminister Egemen Bagis vor einigen Tagen, alle Optionen seien auf dem Tisch: „Genau dafür haben wir ja die Marine.“

Diplomatische Hyperaktivität

Zugleich ist Erdogan diplomatisch hoch aktiv. Kommende Woche besucht er die von langjährigen Machthabern befreiten Länder Ägypten, Libyen und Tunesien. Auch einen Abstecher in den Gazastreifen will Erdogan einbauen, fest steht er allerdings noch nicht. Mit seinem Affront gegen Israel scheint Erdogan in Äypten bereits Wirkung gezeitigt zu haben. Bei den gewaltbereiten Demonstranten vor dem israelischen Botschaftsgebäude in Kairo, das in der Nacht auf Samstag gestürmt worden war, tauchten Bilder von Erdogan auf.

Vor zwei Wochen besuchte Erdogan außerdem die somalische Hauptstadt Mogadischu - als erster Regierungschef eines westlichen Staates seit zwei Jahrzehnten. Auch im komplizierten Verhältnis zwischen Pakistan und Afghanistan engagiert sich die Türkei.

Der Premierminister der Türkei, Recep Tayyip Erdogan, mit seiner Frau und dem somalischen Präsidenten Sharif Sheik Ahmed in einem Flüchtlingscamp in Mogadischu

Reuters/Umit Bektas

Erdogan mit Ehefrau in somalischem Flüchtlingslager

Modell für „Arabischen Frühling“

Klar ist: Das wirtschaftlich boomende Land - wenngleich erste Befürchtungen wegen einer Überhitzung der Märkte im Raum stehen - strebt nach mehr Einfluss und will bei den Veränderungen der arabischen Welt als Modell für den „Arabischen Frühling“ eine führende Rolle übernehmen. Statt sich wie früher als Partner und Außenposten des Westens zu verstehen, strebt die Türkei heute eine Rolle als eigenes Machtzentrum an. Doch so leicht wird das Erdogan nicht fallen.

Trotz grundsätzlicher Beibehaltung der Westbindung Ankaras führt das neue Rollenverständnis zu Reibereien mit alten Verbündeten - auch in Nahost. In Libyen zögerte Erdogan: Während Italien und Frankreich voranpreschten, pflegte er noch Telefonkontakte zum langjährigen libyschen Machthaber Muammar al-Gaddafi. In Syrien setzte er - womöglich zu lange - auf Reformwillen des brutal um sich schlagenden Regimes. Im Streit um Gaza spielte Israel ihn und seine Regierung nun diplomatisch an die Wand.

UNO-Bericht entlastet Israel

Die Beziehungen zwischen der Türkei und Israel sind seit dem Einsatz auf dem türkischen Hilfslieferungenschiff „Mavi Marmara“ am 31. Mai 2010 mit neun getöteten türkischen Aktivisten schwer belastet. Israel hatte den Verlust von Menschenleben zwar bedauert, die von Ankara geforderte förmliche Entschuldigung aber abgelehnt. Als Begründung wurde angeführt, dass die israelischen Elitesoldaten beim Entern des Schiffes zur Selbstverteidigung Gewalt hätten anwenden müssen. Für eine Verschärfung der Spannungen hatte in der vergangenen Woche das Bekanntwerden eines UNO-Berichts gesorgt. Darin wird Israel zwar überzogene Gewaltanwendung bei dem Einsatz auf der „Mavi Marmara“ vorgeworfen.

Tausende bejubeln in Istanbul die Rückkehr des Passagierschiffes Mavi Marmara

APA/EPA/Tolga Bozoglu

Türkische Demonstranten empfangen heimgekehrte „Mavi Marmara“

Die Seeblockade des Gazastreifens und ihre notfalls auch gewaltsame Durchsetzung generell wird aber als rechtens dargestellt. Für den außenpolitisch nach Machtausweitung strebenden Erdogan kam der Bericht zur Unzeit. Er reagierte mit einer Verschärfung der Gangart gegenüber Israel, ließ zunächst den israelischen Botschafter ausweisen und alle Militärabkommen mit Israel auf Eis legen. Mit der nunmehrigen Ankündigung, Hilfslieferungen in den Gazastreifen künftig mit Kriegsschiffen zu begleiten, ist eine militärische Konfrontation mit Israel nun nicht mehr ausgeschlossen, auch wenn derzeit keine derartigen Hilfsaktionen anstehen.

Nun will er den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag anrufen. „Wir werden diese Auseinandersetzung nach Den Haag bringen, und die Welt wird sehen, wer an der Seite der Opfer steht“, sagte Erdogan am Samstag bei einem Treffen mit Wirtschaftsvertretern in der zentralanatolischen Stadt Kayseri, das vom türkischen Staatsfernsehen TRT übertragen wurde.

„Türkei füllt Vakuum“

Der Pariser Politikwissenschaftler Bertrand Badie sieht in Erdogans Vorgehen das Bestreben, die unruhige Lage in Nahost für die Türkei zu nutzen. In einer Situation, in der viele arabische Machthaber wackeln, betreibe der türkische Regierungschef energische Interessenspolitik für sein Land, wird Badie in der französischen Nachrichtenagentur AFP zitiert.

„Es gibt (in der Region, Anm.) ein Vakuum wegen der Schwächung arabischer Macht“, sagt Badie. „Die Türkei füllt dieses Vakuum.“ Mit dieser „hyperaktiven Diplomatie“, wie Badie es nennt, kann die Türkei wegen der politischen Schwäche ihres unmittelbaren Umfeldes und auf der Grundlage ihrer boomenden Wirtschaft möglicherweise noch eine ganze Weile lang punkten. Doch seien Turbulenzen unvermeidlich, wie am Beispiel Israel zu sehen sei. „Die Türkei wird zu einer globalen Macht“, sagt Badie. „Aber wenn man größer und mächtiger wird, kann man nicht alle seine Freunde behalten.“

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