Sowjet-Nostalgie wächst
Über 20 Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion, zu dem ein Putsch von Altkommunisten am 19. August 1991 in Moskau entscheidend beitrug, sehnen sich manche Russen das „Imperium“ zurück. Die Nostalgie wachse im Jubiläumsjahr sogar, wie das Moskauer Meinungsforschungsinstitut WCIOM ermittelte. Jeder fünfte Befragte wünscht sich demnach eine Großmacht wie zu Sowjet-Zeiten. 2010 seien es nur 16 Prozent gewesen.
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Die Bilder vom August 1991 hielten die Welt in Atem: Sowjet-Apparatschiks nutzen am 19. die Gunst der Stunde zum Umsturz. Auf der Ferienhalbinsel Krim wird der Sowjet-Präsident Michail Gorbatschow festgesetzt. In Moskau herrscht Ausnahmezustand. Empörte Bürger stellen sich den auffahrenden Panzern entgegen. Nach Tagen kippt die Stimmung. Das Militär verweigert die Gefolgschaft. Die Putschisten fliehen. In den Folgemonaten zerfällt die Sowjetunion weiter.
Putin: Versteckte Großmachtträume?
Auch zwei Jahrzehnte später ist die Sehnsucht nach der alten Großmacht tief verwurzelt. Dazu passt, dass der russische Regierungschef Wladimir Putin im Vorjahr überraschend deutlich von einer möglichen Vereinigung mit Weißrussland sprach. Putin hatte einst das Ende der Sowjetunion nicht nur als „größte geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts“ bezeichnet. Er hat zuletzt auch eine Zollunion zwischen Russland, Weißrussland und Kasachstan durchgesetzt. Der Beitritt anderer früherer Sowjet-Republiken ist im Gespräch.
Experten aber bewerten die Chancen einer Wiedergeburt eines „Imperiums“ unter Moskauer Führung nach Vorbild der Sowjetunion oder der Europäischen Union skeptisch. Dafür seien demokratische Strukturen nötig, sagt die Moskauer Historikerin Irina Schtscherbakowa von der Menschenrechtsorganisation Memorial im Gespräch mit der Deutschen Presseagentur dpa. Freilich sind davon fast alle Ex-Sowjet-Staaten weit entfernt.
GUS ein schwacher Riese
So ist auch die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), ein Zusammenschluss ehemaliger Sowjet-Republiken, alles andere als eine echte politische Kraft. Das in die EU und die Nato strebende Georgien etwa trat nach dem Südkaukasus-Krieg 2008 gegen Russland aus der GUS aus. Russland hatte nach dem Fünf-Tage-Krieg im August die abtrünnigen georgischen Gebiete Abchasien und Südossetien als unabhängige Staaten anerkannt.
Zwei Jahrzehnte nach dem Zerfall der Sowjetunion wird die Lage im früheren kommunistischen Machtblock weiter von alten Konflikten mitbestimmt. Die von der Republik Moldau abtrünnige Region Transnistrien lebt seit Jahren unter russischer Kontrolle in einem postsowjetischen Schwebezustand. Im September ist dort Präsidentenwahl. In der laut Völkerrecht zu Aserbaidschan gehörenden Region Berg-Karabach kontrolliert Armenien nach einem Krieg mit Hilfe seiner Schutzmacht Russland die Lage.
Und in den zentralasiatischen Republiken Kasachstan, Usbekistan, Tadschikistan und Turkmenistan kritisieren Menschenrechtler ein System der Bevormundung und Gängelung wie zu Sowjet-Zeiten. Gleichwohl beobachten Experten dort eine wachsende Angst der autoritären Machthaber vor ähnlich abrupten Umbrüchen wie in der arabischen Welt.
„Russland fehlt ein Aufbruch“
Russland fehle ein neuer „demokratischer Aufbruch“ wie unter Gorbatschow und dem russischen Präsidenten Boris Jelzin, sagt die Historikerin Schtscherbakowa. Der auf einem Panzer stehende Jelzin habe nicht nur die putschenden Altkommunisten im August 1991 besiegt. Er habe als Volksheld der von Gorbatschows Entscheidungsschwäche überdrüssigen Bevölkerung neue Hoffnung gegeben.
Die Armut war unerträglich
„Die Armut im August 1991 war unerträglich geworden, Menschen standen Schlange, um Brot zu kaufen“, erzählt Schtscherbakowa. „Viele haben noch heute Lebensmittelmarken zu Hause liegen, für die es im Grunde nichts zu kaufen gab. Es war wie im Krieg. Das Land war total am Ende.“ Gorbatschow habe zwar das Vertrauen des Westens gehabt, Abrüstung, freie Wahlen und Pressefreiheit durchgesetzt und die Sowjet-Truppen nach einem langen Krieg aus Afghanistan abgezogen. „Aber er versagte bei der politischen Neuausrichtung des Landes“, sagt Schtscherbakowa. So habe er versäumt, die reformorientierten Kräfte der Kommunistischen Partei zu vereinen - etwa in einer Sozialdemokratie.
Schon lange werfen Historiker Gorbatschow auch vor, durch sein Festhalten an der sozialistischen Planwirtschaft die wirtschaftliche Erneuerung Russlands verschleppt zu haben. Die Marktwirtschaft wurde erst 1992 unter dem Reformer Jegor Gaidar eingeführt. Zwar werden auch in der russischen Führung heute Rufe nach neuen Reformen laut. In Sicht sind echte Modernisierer wie damals aber bisher nicht.
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