Als die Welt den Atem anhielt
In der Früh des 19. August 1991 rollten Panzer durch Moskau. Drei quälend lange Tage ging das Gespenst einer neuen sowjetischen Diktatur um. Ein selbst ernanntes „Staatskomitee für den Ausnahmezustand“ erklärte Präsident Michail Gorbatschow „aus gesundheitlichen Gründen“ für abgesetzt. Der Reformpolitiker saß als Gefangener in seinem Ferienhaus auf der Halbinsel Krim.
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Fast sah es so aus, als würde der Kalte Krieg, der mit dem Fall der Berliner Mauer sein Ende gefunden haben könnte, wiederkehren. Doch nach drei Tagen, da die Welt gebannt nach Moskau blickte, scheiterte der Putschversuch am energischen Widerstand des Präsidenten der Teilrepublik Russland, Boris Jelzin.
Der vergebliche Versuch der Verschwörer, die Sowjetunion zusammenzuhalten, besiegelte das Schicksal des Riesenreiches. Die kommunistische Herrschaft brach zusammen wie zuvor in den anderen Ostblockstaaten. Ende 1991 gingen aus der aufgelösten UdSSR 15 neue Staaten hervor.
Der letzte Anlauf eines alten Apparats
In jenen August-Tagen bäumte sich der Machtapparat der Sowjetunion ein letztes Mal auf. Jahrelang hatten die Konservativen zugesehen, wie Gorbatschow mit seiner Politik der Perestroika (Umgestaltung) und Glasnost (Offenheit) ihrer Meinung nach die Lebensgrundlagen des Staates untergrub.
Der Geheimdienst KGB, Armee, Polizei und die Staatswirtschaft rückten mit ihren Führern in das Notstandskomitee ein. Doch dem Vizepräsidenten Gennadi Janajew zitterten die Hände, als er sich der Weltöffentlichkeit als neuer Machthaber präsentieren wollte.
„Ich hätte nicht wegfahren sollen“
Gorbatschow bekennt mittlerweile, dass es ein „Fehler“ war, damals auf Urlaub gefahren zu sein. „Ich dachte, das müssten Idioten sein, wenn sie gerade in diesem Moment va banque spielen“, so Gorbatschow zum „Spiegel“ (aktuelle Ausgabe). Es würde sie dann selbst hinwegfegen, skizzierte Gorbatschow seine damalige Einschätzung.
„Aber es waren leider wirklich Idioten, sie machten alles kaputt. Und wir erwiesen uns als Halbidioten, auch ich“, so Gorbatschow, der bekennt: „Ich war in all diesen Jahren zermürbt worden, ich war müde bis zum Limit. Aber ich hätte nicht wegfahren sollen.“
Jelzin organisiert den Widerstand
Vom Weißen Haus in Moskau, damals Sitz des russischen Parlaments, organisierte Jelzin den Widerstand gegen die Putschisten. Mehrere hunderttausend Menschen gingen für die gerade erst gewonnene Freiheit auf die Straße. Eilig zusammengeschobene Barrikaden schützten das Parlamentsgebäude.
Von einem Panzer herab rief der Volkstribun Jelzin zum Generalstreik auf. Als in der spannungsgeladenen Nacht auf den 21. August einzelne Panzer auf das Moskauer Weiße Haus vorrückten, wurden drei junge Demonstranten getötet. Doch der große Sturm blieb aus, weil Teile der Armee den Putschisten den Gehorsam verweigerten.

Reuters
Jelzin und die Stunde des Volkstribuns - die berühmte Rede auf dem Panzer
Gorbatschow: Frei, aber geschlagen
Am Abend des 21. August 1991 gaben die Verschwörer auf. Gorbatschow kehrte als freier, aber geschlagener Mann nach Moskau zurück. Die Macht war endgültig seinem langjährigen Widersacher Boris Jelzin zugefallen. Der verbot mit einem Federstrich die Tätigkeit der Kommunistischen Partei in Russland. Die Sowjet-Republiken wollten Gorbatschows Vorschlag einer erneuerten Union nicht mehr folgen. Reihenweise erklärten sie in den Tagen nach dem Putsch ihre Unabhängigkeit.
Für die Russen, die im August 1991 begeistert ihre weiß-blau-roten Fahnen schwenkten, war der erfolgreiche Widerstand eine befreiende Erfahrung - wie die Gewerkschaftsbewegung Solidarität (Solidarnosc) 1980/81 in Polen und die Montagsdemonstrationen in der DDR. „Russland rettete die Demokratie, rettete die Union, rettete die Welt“, rief Jelzin stolz bei einer Siegesfeier am Weißen Haus.

AP/Boris Yurchenko
Am 20. August 1991 versammeln sich Demonstranten vor dem Moskauer Rathaus - der Gorbatschow-Vertraute Alexander Jakowlew verlangt, dass der von den Putschisten abgesetzte Staatschef eine TV-Ansprache halten darf
Verflogene Euphorie
Doch die Euphorie der August-Tage verflog. Ende 1991 zog Jelzin als Herrscher in den Kreml ein. Der Volkstribun isolierte sich jedoch über die Jahre von seinen Landsleuten, er wurde eine Geisel seiner Höflinge, seiner Krankheiten und Launen. 1993 kehrte sich die Geschichte um: Jelzin gab den Befehl zum Sturm auf das Weiße Haus, in dem sich nationalistische und altkommunistische Aufständische verschanzt hatten.
Rund 150 Menschen starben nach offiziellen Angaben - inoffiziell ist von Hunderten Toten die Rede -, als die neue Führung Russlands das letzte Aufbäumen der Sowjetunion niederschlug.

APA/EPA/ITAR-TASS
Heimkehr aus dem Urlaub: Michail Gorbatschow weiß, dass der neue starke Mann nun Boris Jelzin heißt
Gorbatschow will „neuen demokratischen Aufbruch“
Die Bilanz von Gorbatschow fiel zum 20-jährigen Jubiläum des Sommerputsches skeptisch aus. Für sein Land fordert er einen „neuen demokratischen Aufbruch“. Russland lebe in weiten Teilen noch immer in einem System wie zu Zeiten von Sowjet-Diktator Josef Stalin, sagte Gorbatschow.
Zugleich verlangte er eine Modernisierung des von Regierungschef Wladimir Putin und Präsident Dimitri Medwedew geführten Moskauer Machtapparates. „Die Erneuerung der obersten Führungsschicht muss erfolgen“, sagte Gorbatschow vor Journalisten.
Gorbatschow sagte, er „unterstütze“ den früheren russischen Präsidenten und heutigen Regierungschef Wladimir Putin - trotz „autoritärer Tendenzen“. Er kritisierte jedoch dessen Partei Einiges Russland, weil sie der Kommunistischen Partei der Sowjetunion ähnle. Es dürfe aber kein „Monopol“ geben. „Wir dürfen die Sowjetunion nicht in ihrer schlimmsten Form wiederholen“, sagte Gorbatschow.
„Brauchen ehrliche Wahlen“
Der Vater der Perestroika ließ zudem durchblicken, dass er Wahlen in Russland für gefälscht hält. „Wir brauchen ehrliche Wahlen“, sagte er. Derzeit gebe der Vizestabschef und Chefideologe des Kremls, Wladislaw Surkow, vor, welches Ergebnis die Regierungspartei in den Regionen erreichen solle.
Russland zeige auch sonst rückwärtsgewandte Tendenzen. Nach den Maßstäben von Ländern wie Österreich lebten 96 Prozent der Russen unter der Armutsgrenze, die Sterblichkeit sei so hoch wie in afrikanischen Ländern, und an den Hochschulen würden nur halb so viele Diplome gemacht wie nach dem Zweiten Weltkrieg.
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