Von Anais Nin bis Charlotte Roche
„Schoßgebete“ heißt das neue Buch von Charlotte Roche. Es ist der Nachfolger der „Feuchtgebiete“. Frauen und Sex: Das zieht. So scheint es auf den ersten Blick. Dahinter steckt aber noch mehr.
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Er würde Kindern lieber Blausäure geben als dieses Buch. So urteilte ein Kritiker des „Sunday Express“ im Jahr 1928 über den englischen Roman „Quell der Einsamkeit“ von Radclyffe Hall. Aus heutiger Sicht ist die lesbische Liebesgeschichte harmlos. Damals reichten Sätze wie „Und diese Nacht waren sie nicht getrennt“ für rote Ohren. Im 21. Jahrhundert muss es dafür schon deutlich derber zugehen - siehe Charlotte Roche mit ihren „Feuchtgebieten“. Der Titel ihres neuen Buchs deutet in ähnliches Terrain. Es heißt „Schoßgebete“.
Andere Zeiten, andere Skandale. Was gleich bleibt: Wenn Frauen über Sexualität und Körperlichkeit schreiben, ist das traditionell ein größerer Aufreger, als wenn Männer sich damit befassen. Anais Nins erotischer Prosaband „Das Delta der Venus“ erschien beispielsweise erst 1977, mehr als 30 Jahre nach seiner Entstehung. Noch 1983 wurde das Buch in München von der Polizei beschlagnahmt.
Jüngere Aufregungsversuche
„Das sexuelle Leben der Catherine M.“ (2001) bekam wohl eine Extraportion Aufmerksamkeit, weil eine Frau, und dazu noch die Chefredakteurin einer französischen Kunstzeitschrift, über ihre Erlebnisse geschrieben hatte.
Bei „Bitterfotze“ (2009) war der Titel drastischer als der Inhalt. Der Schwedin Maria Sveland ging es mehr um die Gleichberechtigung von Mann und Frau als um Sex. Da steht sie in einer Tradition mit „Tod des Märchenprinzen“ der Hamburgerin Svende Merian, einem feministischen Liebling aus den 80er Jahren, als noch „Beziehungsarbeit“ geleistet wurde.
Francoise Sagan, Helene Hegemann
Manchmal spielt auch das Alter der Autorin eine Rolle. Francoise Sagan sorgte mit „Bonjour Tristesse“ in den 50er Jahren für Aufsehen. Damals war die Französin gerade 18 Jahre alt: sehr jung für eine solche Liebes- und Eifersuchtsgeschichte. Das erinnert an Helene Hegemann, die mit 17 Jahren „Axolotl Roadkill“ veröffentlichte und für ihre Schilderung der exzessiven Berliner Szene als Wunderkind gefeiert wurde - bevor Plagiatsvorwürfe sie straucheln ließen.
„Sie wollen nur im Stehen pinkeln“
Die Amerikanerin Erica Jong hat nach ihrem freizügigen Debüt „Angst vorm Fliegen“ (1973) zu spüren bekommen, dass bei Männern und Frauen mit zweierlei Maß gemessen wird. „Männliche Schriftsteller wie Henry Miller oder Philip Roth konnten schon lange über Sex schreiben. Aber nicht Frauen“, sagte Jong einmal in einem „Stern“-Interview. Sie habe gewusst, wie viele Vorurteile es gibt, aber nicht, was sie erwarten würde. „Ich wurde als Hure und Schlampe beschimpft, in einer Talkshow sagte der Moderator zu mir: ‚Geben Sie es zu - Sie wollen nur im Stehen pinkeln können.‘“
Charlotte Roche spaltete mit ihrem millionenfach verkauften Bestseller „Feuchtgebiete“ 2008 die Leserschaft. Die einen empfanden ihn als „Untenrum-Buch“ und die Analszenen nur noch als ekelig. Die anderen lasen die Geschichte der Helen Memel als sensible Innensicht und als Kritik am Reinlichkeitswahn, dem Frauen unterliegen.
Kein Tabubruch?
Von einem „Tabubruch“ könne bei „Feuchtgebiete“ aber nicht die Rede sein, erklärt der Kieler Literaturwissenschaftler Albert Meier. Er sieht das Buch in der Tradition des „Grobianismus“, einem Genre, das seine Blütezeit im 15. und 16. Jahrhundert hatte. Dass sich Schriftsteller mit dem menschlichen Unterleib und seinen Ausscheidungen beschäftigen, ist demnach nichts Neues. Bei Roche sieht Meier das Genre ins Mädchenhafte gewendet. Dazu passt das adrette Auftreten der Autorin als Kontrast.
Buchhinweis
Albert Meier: Immer sehr unmädchenhaft. Charlotte Roche und ihre Feuchtgebiete. In: Hans-Edwin Friedrich (Hrsg.): Literaturskandale. Peter Lang Verlag, 248 Seiten, 29,80 Euro.
„Schoßgebete“ wird vom Piper Verlag als „die neue Charlotte Roche“ gehandelt, fast so, als käme „der neue Golf“ auf den Markt. Der Roman widme sich „einem unserer letzten Tabus“ - dem ehelichen Sex. Gibt es tatsächlich so etwas wie einen „Bestseller mit Ansage“, wie die „Zeit“ über Roches neues Buch schrieb? Ja, sagt Susanne Hellmann, Hauptabteilungsleiterin Buch beim Kulturkaufhaus Dussmann in Berlin. Das gelte für Bücher, bei denen entweder die Autoren bekannt seien, eine große Fangemeinde hätten oder wenn sie „medial gut vernetzt“ seien wie die TV-Moderatorin Roche.
Rekordauflagen
Frauen und Sex: Das ziehe noch immer, hat auch Hellmann beobachtet. So landete die 1929 geborene Österreicherin Elfriede Vavrik, beflügelt durch Talkshow-Auftritte, mit „Nacktbadestrand“ einen Bestseller. Darin geht es um Sex im Alter. Auch „Fucking Berlin“, ein Buch über eine Studentin als Prostituierte, wurde zum Stapeltitel.
Manchmal sind die Buchhändler überrascht, was gut läuft. Bei „Feuchtgebiete“ sei der Hype nicht zu erwarten gewesen, so Hellmann. „Man kann es nicht so einfach sagen, was Erfolg haben wird oder nicht.“ Die Startauflage von „Schoßgebete“ liegt laut Piper bei 500.000 Exemplaren - ein Rekord für den Verlag.
Caroline Bock, dpa
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