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Der Bruder kehrte nicht mehr heim

Den 13. August 1961 vergisst Jürgen Litfin wohl nie. Mit seinem Bruder Günter fuhr er die Zonengrenze ab, während auf Ost-Berliner Seite die Mauer zum Westen endgültig abgeriegelt wurde. „So viel Militär, die meinen es ernst“, erinnert sich Jürgen Litfin an seine Worte von damals. „Wir waren fassungslos.“ Elf Tage später war sein Bruder tot.

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Günter Litfin war das erste Opfer des Schießbefehls. Er wurde von den Grenzbeamten auf der Flucht erschossen. Sein Bruder erinnert noch heute an ihn: Jürgen Litfin steht im zweiten Stock des ehemaligen Wachturms am Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal unweit des Hauptbahnhofs. Den mittlerweile von Wohnhäusern zugebauten Betonklotz hat der heute 71-Jährige zu einer Gedenkstätte umfunktioniert. Von März bis Oktober erzählt der Berliner die tragische Geschichte seiner Familie und seine Sicht auf die DDR. Er klingt verbittert.

„Drüben Arbeit und Wohnung“

„Mein Bruder hatte drüben Arbeit und eine Wohnung“, sagt er. Drüben war für Jürgen Litfin West-Berlin. Der Mauerbau hat den Schneider jedoch arbeitslos gemacht. Günter Litfin wollte wieder zurück in den West-Teil, weg aus der DDR - wie viele andere Unzufriedene auch.

„Am 24. August kam mein Bruder nicht mehr nach Hause“, erzählt Litfin, der einen Tag später verhaftet und im Verhör nach West-Kontakten befragt wurde. Vom Schicksal seines Bruders hörte er jedoch nichts. „Am anderen Morgen kam ich wieder frei.“

Vom Tod aus dem West-Fernsehen erfahren

Vom Tod seines Bruders erfuhren er und seine Familie zufällig aus dem West-Fernsehen. Die Berliner „Abendschau“ berichtete über den ersten Mauertoten und zeigte ein Foto des 24-jährigen Getöteten. Günter Litfin wollte am Humboldthafen nahe der Charite-Klinik unter einer S-Bahn-Brücke nach West-Berlin schwimmen.

Um 16.15 Uhr traf ihn die Kugel aus dem Gewehr eines Transportpolizisten. „Die Diagnose der Rechtsmedizin: Hals- und Mundboden-Durchschuss“, sagt Litfin. Über 100 Menschen ließen bis 1989 bei Fluchtversuchen an der Grenze ihr Leben.

Jürgen Liftin in der Gedenkstätte für seinen erschossenen Bruder

dapd/Berthold Stadler

Ein Bruder hält das Gedenken hoch; Jürgen Litfin vor Bildern seines Bruders Günter

„Durften ihn nicht noch einmal sehen“

In dem Wachturm hängt ein Zeitungsbericht über den Vorfall mit einem Foto, das zeigt, wie der Leichnam von Günter Litfin über eine Leiter aus dem Wasser geborgen wird. „Die Gerichtsmedizin verbot uns, Günter noch einmal zu sehen“, erzählt Jürgen Litfin.

„Ich konnte bis zum Tag der Beerdigung am 31. August nicht schlafen“, erzählt der 71-Jährige. Er habe sich vorgestellt, wie sein Bruder von Kugeln durchsiebt im Sarg liegt. Diese Ungewissheit setzte ihm zu.

Am Tag der Beisetzung sei er schließlich mit einer Brechstange in den Keller der Kapelle gegangen und habe den Sarg geöffnet. „Er sah fast unversehrt aus.“ In seiner Stasi-Akte las er 1992 über die Beisetzung, 60 überwiegend ältere Menschen hätten daran teilgenommen. Es habe keine besonderen Vorkommnisse gegeben.

„Zurechtgebastelt, wie sie es brauchten“

„Das ist falsch“, ist Litfin immer noch erbost. Mehr als 1.000 Menschen hätten seinem Bruder die letzte Ehre erwiesen. „Die haben es sich zurechtgebastelt, wie sie es grade brauchten und wollten.“

Jürgen Litfin und seine Familie wurden jahrelang von der Staatssicherheit bespitzelt. „Sogar in der Wohnung unter uns hatte sich jemand einquartiert.“ Zu DDR-Zeiten durfte er nicht über den Tod seines Bruders sprechen. Offiziell habe es geheißen, es sei ein Unglücksfall gewesen.

Litfin wurde 1980, weil er die Möbel eines Antragstellers auf Ausreise kaufte, wegen angeblicher Beihilfe zur Flucht verurteilt. Daraufhin kaufte ihn die Bundesrepublik frei.

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