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„Marschiert wie die Ägypter“

Bei einer der größten Kundgebungen in der Geschichte des jüdischen Staates haben am Samstagabend landesweit nach den stets sehr vorsichtigen Schätzungen der Polizei mindestens 250.000 Menschen gegen die hohen Lebenshaltungskosten demonstriert. Israelische Medien berichteten jedoch von mindestens 350.000 Demonstranten.

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Vom Norden bis in die Negev-Wüste im Süden gab es Demonstrationen, in Jerusalem beteiligten sich etwa 30.000 Menschen. Die bei weitem größte Einzeldemonstration gab es wie schon an den beiden vorangegangenen Samstagen in Tel Aviv. Rund 300.000 Menschen zogen dort nach dem Ende des Schabbats durch die Innenstadt. „Marschiert wie die Ägypter“, stand auf einem der mitgeführten Plakate in Anspielung auf die erfolgreiche Protestbewegung im Nachbarland.

Mann beobachtet mit Israel-Fahne in der Hand die protestierende Menschenmasse auf der Straße in Tel-Aviv

AP/Ariel Schalit

Menschenmassen ziehen durch eine Straße in Tel Aviv

„Das Volk will soziale Gerechtigkeit“, skandierten die Menschen in Sprechchören. Erstmals beteiligte sich auch der Gewerkschaftsverband Histradut an den Kundgebungen. Auch während der Kundgebung versuchten immer noch Tausende Menschen, durch verstopfte Seitenstraßen zum zentralen Kundgebungsort vorzudringen.

„Das ist ein Ereignis, das einen Wendepunkt in den Beziehungen zwischen Bürgern und Regierung darstellt“, zitierte das Onlineportal „Ynet“ Amram Mitzna, einen der Kandidaten für die Führung der oppositionellen Arbeitspartei.

Forderungen immer vielfältiger

Die Protestbewegung hatte vor mehr als drei Wochen mit einem kleinen Zeltlager im Zentrum von Tel Aviv als Ausdruck des Protests gegen die hohen Mieten begonnen. Inzwischen sind die Forderungen viel umfassender und zum Teil auch unübersichtlicher geworden. Es geht nicht mehr nur um das Wohnungsproblem, sondern auch um die Gesundheitsversorgung, das Bildungssystem und die Steuerlast sowie um immer neue Partikularinteressen.

Zelte stehen im Park von Jerusalem

APA/EPA/Jim Hollander

Zeltlager der Demonstranten in Jerusalem

„Ich bin hier, weil ich die Forderungen der jungen Generation unterstützen will“, sagte der 65-jährige Ben der Deutschen Presse-Agentur (dpa) in Tel Aviv. Mit seiner Schwiegertochter nahm er an der Großkundgebung teil. „Diese Demonstration ist gut, weil die Gesellschaft endlich aus ihrem Schlaf erwacht ist. Es ist nicht sehr politisch: Es geht gegen hohe Mieten, gegen teure Kindergärten, gegen Steuern, die hohen Militärausgaben, ja sogar gegen die Verkehrsstaus“, sagt er. Plakate wie „Bibi, das Spiel ist aus“, hält er aber für Ausnahmen.

Neues Gesetz fachte Proteste an

Der konservative Ministerpräsident Benjamin „Bibi“ Netanjahu hatte noch Öl ins Feuer der Proteste gekippt, als er vergangenen Mittwoch ein Gesetz für Wohnungsbau durch das Parlament brachte, das nach Ansicht der Protestbewegung das Problem der zu großen und damit zu teuren Wohnungen eher noch verschärfen werde. Zugleich hatte Netanjahu die Forderungen der Protestbewegung nach kostenlosen Krippen und Kindergärten sowie nach mehr Geld für die Bildung und ein Ende der Privatisierungen abgelehnt.

„Netanjahu, hör uns zu. Wir sind das Salz der Erde. Wir wollen Veränderungen“, sagte der Vorsitzende der Studentenunion, Jizchak Schmueli, bei seiner Rede vor den Kundgebungsteilnehmern in Tel Aviv. „Aber wir brauchen keine Veränderung der gewählten (...) Koalition. Wir, die Jugend, verlangen eine Veränderung des grausamen ökonomischen Systems“, fügte Schmueli unter tosendem Beifall hinzu.

Bereits vor einer Woche hatte es mit bis zu 150.000 Menschen die größte Demo seit der Ermordung des damaligen Regierungschefs Jizchak Rabin im Jahr 1995 gegeben.

Regierung stellt Lösung in Aussicht

Am Sonntag berichteten israelische Medien, Netanjahu habe den Wirtschaftsexperten Manuel Trachtenberg an die Spitze eines Komitees gesetzt, das binnen eines Monats Vorschläge zur Lösung der Wohnungsfrage und anderer Probleme vorlegen soll. Neben Trachtenberg sollen dem Komitee auch Minister aus dem Kabinett angehören.

Finanzminister Juwal Steinitz hatte zuvor Verständnis für die Massenproteste geäußert. Der Aufmarsch sei „eindrucksvoll“, sagte der Minister am Sonntag im israelischen Radio. Als Ursache sieht er die Lebenserhaltungskosten in Israel - diese seien „unvernünftig und nicht zu rechtfertigen“.

Bereits am Freitag hatte es ähnliche Signale aus dem Regierungslager gegeben. Kommunikationsminister Mosche Kahlon hatte angekündigt, das Maßnahmenpaket der Regierung werde durchgesetzt, auch wenn es „Milliarden koste“. Möglich seien unter anderem Steuererleichterung für die Mittelklasse sowie ein hartes Durchgreifen der Regierung bei Marktkartellen, die den Wettbewerb verzerrten.

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