Das Ringen um eine neue Lernkultur
Die Debatte über die Reform der Oberstufe dominiert derzeit die Bildungspolitik. Auch bei ihrer jüngsten Klausur auf dem Semmering konzentrierte sich die Regierung vor allem auf das Modulsystem für die Oberstufe und auf die Neue Mittelschule. Weitgehend außerhalb des politischen Fokus befindet sich dagegen die Volksschule.
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Zu Unrecht, ist der Bildungsexperte Kurt Schmid überzeugt, denn gerade dort habe der letzte PIRLS-Test (Internationale Untersuchung zur Lesekompetenz von Grundschülern, Anm.) dringenden Nachholbedarf aufgezeigt. Und die Behörden stehen aufgrund der geburtenschwächeren Jahrgänge in nächster Zukunft noch stärker als bisher vor dem Problem, wie Schulen in kleinen Orten am Land erhalten werden können.
Der stetig wachsende Druck, mehrstufige Klassen einzuführen, wäre daher „eine Chance, einen innovativen Trend“ ins Schulsystem hineinzubringen, so Schmid vom Institut für Bildungsforschung der Wirtschaft (IBW) im ORF.at-Interview. Gespräche mit Experten in den Landesschulbehörden zeigten, dass das in Ansätzen bereits versucht wird, doch an vielen Fronten - von der Politik über die Behörden und Lehrer bis hin zu den Eltern - fehlt noch das Bewusstsein.
An den heimischen Volksschulklassen gibt es laut Schmid selbst in jenen Klassen, die nur aus einem Jahrgang bestehen, (Jahrgangsklassen, Anm.) eine große Heterogenität bei den Lernerfolgen der Kinder. Das sei ein Zeichen dafür, dass es „Veränderungsbedarf beim pädagogischen Ansatz“ gebe.
„Innere Differenzierung“
Zeitgemäße Pädagogik fordert die Abkehr vom fiktiven Normschüler, an dem sich alle Kinder orientieren müssen. Vielmehr wird Heterogenität positiv gesehen und das selbständige Lernen - also das eigene Erarbeiten von neuen Inhalten - gefördert und dadurch Zeit gewonnen, damit der Lehrer auf individuelle Schwächen und Stärken besser eingehen kann. Experten sprechen - weil die Trennlinie Jahrgang wegfällt - von „innerer Differenzierung“. In reformorientierten Mehrstufenklassen wird genau das versucht.
Umdenken erforderlich
Während Vertreter der Landesschulräte gegenüber ORF.at mehrheitlich betonten, dass gerade am Land die Lehrer pädagogisch für einen echten Mehrstufenunterricht durch die Praxis gerüstet seien, ist Schmid da skeptischer. Denn woher sollten beispielsweise Lehrer an Schulen, die von Jahrgangsklassen auf Mehrstufenklassen umstellen, das können? Auch wenn sie das im Zuge der Ausbildung gelernt hätten, mangle es ihnen vermutlich doch an der Erfahrung und Praxis, diese Form des offenen Unterrichts zu organisieren.
Standardantwort auf Standortfrage
Das führt dazu, dass an den meisten Kleinschulen mehrstufige Klassen weiterhin traditionell im „Abteilungsunterricht“ geführt werden: Innerhalb der Klasse werden die Altersstufen getrennt (eben in „Abteilungen“, Anm.) unterrichtet. Das ist - sofern der Lehrer nicht selbst den ihm zur Verfügung stehenden Freiraum nützt - im schlimmsten Fall die rein organisatorische Verwaltung eines Mangels: Der Standort wird erhalten, indem ein Lehrer „eingespart“ wird.
Dass mehr Weiterbildung nötig ist, darin sind sich die Landesschulbehörden und der Bildungsexperte einig. Mehrere Landesschulinspektoren betonten, dass es ein breites Angebot für die Lehrer gebe. Schmid ist das jedoch zu wenig: Die Fortbildung dürfe sich nicht nur auf den einzelnen Lehrer beschränken, sondern sollte auch den ganzen Lehrkörper umfassen – damit etwa die Schule gemeinsam ein pädagogisches Konzept entwickeln kann. Zu sagen, „die Lehrer werden das schon machen“, genüge jedenfalls nicht.
Für „Best Practice“-Schulen
Schmid plädiert zudem dafür, eine Art Modellunterricht aufzubauen mit „Best Practice“-Schulen, an denen Lehrer ganz konkret neue Unterrichtsformen erlernen können. In Südkorea etwa seien Lehrer im Rahmen der Fortbildung verpflichtet, am Unterricht an solchen Modellschulen teilzunehmen und so für die Praxis zu lernen.
Ein deutlich optimistischeres Bild vom derzeitigen Volksschulunterricht zeichnen dagegen die Landesschulbehörden. Gegenüber ORF.at wurde einhellig betont, dass es letztlich nicht auf die Organisationsform ankomme, sondern auf den einzelnen Lehrer - in der Volksschule meist die Lehrerin -, wie gut ein Unterricht abläuft. Jeder Lehrer sei zwar an die Erreichung der Lehrplanziele gebunden - per Gesetz jedoch frei in der Wahl seiner Unterrichtsmethode, um sich auf die Bedürfnisse der Schüler einstellen zu können.
Ende des „Abstempelns“
Während die Landesschulbehörden das aktuelle System naturgemäß verteidigen, zielt Schmids Kritik tiefer. Das Problem sei, dass das heimische System einen Schüler, der einmal nicht mehr im Unterricht mitkommt, zu rasch „abstempelt“. Genau das versucht das von den Reformschulen (etwa Montessori, Anm.) kommende Mehrstufenkonzept zu verhindern. Hier sind in der Regel zwei Lehrer in der Klasse, womit es möglich wird, schwächere, aber auch besonders begabte Schüler individuell zu fördern. Die Schulstufen werden - wenn schon nicht im Zeugnis, dann doch im Schulalltag - aufgelöst, Kinder können ihren Stärken und Schwächen gemäß die Lernziele mit unterschiedlichem Tempo erreichen.
In Finnland werden laut Schmid Lernrückstände gezielt durch Förderung der Schüler aufgeholt – etwa mit eigenen Einheiten am Nachmittag oder indem temporär spezielle Fördergruppen gebildet werden. Da würden dann beispielsweise zwei Lehrer sechs Kinder intensiv betreuen – bis sie in dem Fach wieder zum allgemeinen Klassenniveau aufgeschlossen hätten.
Spitze bei Ausgaben
Bei den Ausgaben für Bildung ist Österreich im Spitzenfeld, betont Schmid. Bei den Lernergebnissen dagegen schneiden heimische Schüler eher mittelmäßig ab.
Keine Frage des Geldes
Die große Herausforderung sei es daher, zu einem anderen, völlig neuen Verständnis von Pädagogik zu kommen. Und anders als jene Stimmen in der Schulverwaltung, die sich ebenfalls für eine pädagogische Reform starkmachen, ist Schmid überzeugt, dass dafür kein zusätzliches Geld (etwa für die Stützlehrer) nötig ist. Im Gegenteil betont der Bildungsexperte der Wirtschaft, dass im heimischen Schulsystem genug Geld vorhanden sei. Das finnische System mit den Stützlehrern sei jedenfalls billiger, gibt Schmid zu bedenken.
Und Schmid warnt explizit gegenüber ORF.at davor, mehr Geld in das jetzige System zu stecken. Das würde seiner Ansicht nach keine grundlegende Verbesserung bringen. Vielmehr müsse man über einen gezielteren Einsatz der Gelder nachdenken - etwa über andere Anreizsysteme für die Lehrer. In Österreich versickere - mit Verweis auf die neun Landesschulbehörden - offenbar viel Geld in der Schulverwaltung. Mehr Geld, um mehr Lehrer anzustellen, dabei aber das derzeitige System weiterzuführen, sei jedenfalls keine Lösung.
Aus der wachsenden „Not“ der Kleinschulen könnte also pädagogisch im wahrsten Sinne des Wortes Kapital geschlagen werden, doch diese Chance wurde - zumindest bisher - kaum genutzt.
Guido Tiefenthaler, ORF.at
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