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Funktion nach wie vor ungeklärt

Über 20 Meter hoch ragen die Tuffsteinwände fast senkrecht in die Höhe. Es riecht etwas modrig, die Luft steht still in der kühlen engen Straße, nicht einmal die Sonnenstrahlen schaffen es bis zum feuchten Boden. Die Vie Cave, die Hohlwege der Etrusker, sind bis heute eines der größten Geheimnisse in der an Mysterien nicht armen Kultur des antiken Volkes.

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„Solch ungewöhnliche Werke hat keine andere antike Kultur geschaffen“, schreibt Etrusker-Expertin Silvia Nanni in dem Buch „Le Vie Cave“. Die wie tiefe Korridore angelegten Wege finden sich vor allem in der Maremma - dem südlichen Teil der Toskana - und durchfurchen kreuz und quer das Hügelland rund um die drei Städtchen Pitigliano, Sorano und Sovana.

„Noch heute wandelt man hier in einem geradezu unberührten Ambiente, in dem der Mensch sich als Untertan der Natur fühlt“, heißt es auf der Website der Cooperativa La Fortezza, die sich seit 1985 um die Verwaltung der toskanischen Tuffsteinattraktionen kümmert.

Wege per Hand geschlagen

Aber wozu dienten diese Wege überhaupt? Darüber sind sich Experten und Archäologen bis heute uneinig. Waren die Vie Cave Kommunikationsstraßen zwischen den Siedlungen der Etrukser? Aber warum hätten die Menschen damals für einen solch banalen Zweck derart tief graben und derartige Strapazen auf sich nehmen sollen? Denn die Wege wurden per Hand mit Hacken geschlagen oder mit Holzkeilen aus dem Tuffstein gesprengt.

Zudem sind einige wie ein Labyrinth angelegt, andere konzentrisch. „Alles ungewöhnliche Charakteristiken für Wege, die nur eine einfache Straßenfunktion haben sollten“, meint Nanni.

Anlage für heidnische Rituale?

Andere glauben, die Vie Cave seien zur Kanalisation des Regenwassers angelegt worden. Die faszinierendste Hypothese geht hingegen davon aus, dass es sich um heilige Kultstätten handelte. Die Etrusker liebten Magie und Astrologie und könnten die Wege für ihre heidnischen Riten benutzt haben. Antike Kulturen haben oft die Idee des Labyrinths mit der des Jenseits assoziiert.

Den Ausgang aus dem dunklen, engen Wegesystem zu finden war ein Symbol für die Reise, die die Seele auf dem Weg zur Unsterblichkeit durchwandern muss. Viele Kenner etruskischer Kultur sind sich sicher: „Wir werden wohl nie wissen, ob diese in den Tuff gehauenen Wege in ihrer tausendjährigen Geschichte all dem gedient haben, was die Wissenschaftler heute annehmen.“

Ideales Mikroklima für Flechten und Farne

Cavone, Via Cava dell’Annunziata, San Giuseppe oder San Rocco, so lauten heute die Namen der Wege. Aufgrund ihrer „Architektur“, die kaum Sonnenlicht hereinlässt, findet sich hier ein ideales Mikroklima für Moschus, Flechten, Anemonen und Farn. Unwegsam ist es teilweise auch: Oft findet sich in der Mitte eine enge Ausbuchtung, während die Seiten höher angelegt sind. Ist das etwa ein Zeichen dafür, dass Eselskarren durch die Vie Cave fuhren?

Zwischen 800 und 100 v. Chr. lebten die Etrusker im Gebiet der Regionen Toskana, Umbrien und Latium. Woher sie kamen und wohin sie gingen - auch das ist bis heute ein Rätsel. Immerhin haben Experten per DNA-Analyse herausgefunden, dass das antike Volk kaum Gemeinsamkeiten mit den heutigen Bewohnern der Region Toskana aufweist und die Toskaner also nicht die direkten Nachfahren der „Rasenna“ - wie Etrusker sich selbst nannten - waren. Ob ein ähnlicher Beweis eines Tages auch für die wahre Funktion der Vie Cave gelingt, gilt allerdings als fraglich.

Carola Frentzen, dpa

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