„Tauchtermin“, „Überstundenmittwoch“
Filme über den Betrug in der Ehe gibt es viele. Meist aber gleiten sie ins Spektakel ab: Skandal, Mord, Selbstmord. Regisseur Silvio Soldini geht einen anderen Weg. Er zeigt die Zerrissenheit zwischen schlechtem Gewissen und Leidenschaft in einem Umfeld von Durchschnittsbürgern - den ganz normalen Wahnsinn also.
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Auf diese Sorte Film ist Soldini gebucht, er gibt den Mike Leigh des heruntergewirtschafteten Italien. Vor über zehn Jahren drehte er „Brot und Tulpen“, seinen Erfolgsfilm über das Venedig-Abenteuer einer Ehefrau und Mutter. 2007 reüssierte „Tage und Wolken“, in dem der berufliche Niedergang eines Mannes beschrieben wird. Diesmal geht es um eine Viererkonstellation in Mailand.
Alles geregelt
Anna fragt sich selbst wie im Filmtitel: „Was will ich mehr?“ Sie hat einen Job als Buchhalterin, Freunde, versteht sich gut mit ihrer Familie und lebt mit Alessio in einer Langzeitbeziehung. Kinder sind bereits geplant - aber wie sollen sie gezeugt werden, wenn das Paar kaum Sex hat? Alessio ist dick und trägt unmodische Kleidung. Am Abend liegt er im Bett und liest mit einer Buchklemmlampe dicke Schmöker über Sachthemen, die er dann Anna referiert. Er betreibt ein Lederwarengeschäft und ist geschickt im Basteln. Humor hat Alessio, Sexappeal nicht.
Domenico ist aus dem Maghreb nach Italien gekommen, als er 16 war. Er spricht akzentfrei Italienisch und arbeitet schlecht bezahlt als Kellner und Chef de Rang im Restaurant einer knausrigen Dame. Mit seiner Frau hat Domenico ein Baby und ein kleines Mädchen. Geldsorgen plagen die junge Familie, immer wieder müssen Verwandte um Geld angeschnorrt werden. Mit der Gattin kommt es infolgedessen oft zu Streit. All das zehrt am Selbstwertgefühl des virilen Domenico, der in seiner Freizeit am liebsten taucht.
Mythen raus, Realität rein
Domenico und Anna treffen aufeinander und verlieben sich - und es beginnt ein Spiel, das viele Menschen aus eigener Erfahrung oder aus ihrer unmittelbaren Umgebung kennen. SMS flirren hin und retour. Ein Rendezvous im Restaurant wird vereinbart. Anna nimmt Domenico am Abend mit ins Büro, aber sie werden gestört. Nächstes Treffen, ein neuer Versuch, diesmal im Hauseingang, was auch nicht besser klappt. Schließlich mieten sich die beiden jede Woche am „Tauchtermin“ (Domenico) beziehungsweise „Überstundenmittwoch“ (Anna) im Stundenhotel ein - die Routine eines verbotenen Verhältnisses.
Mythen raus, Realität rein - das scheint das Motto von Soldini gewesen zu sein. Viel wird mit natürlichem Licht und Handkamera gedreht. Die Figuren werden von schlechtem Gewissen geplagt. Man leidet mit Alessio mit, der so in seiner verschrobenen Welt gefangen ist, dass er sogar dann nicht Verdacht schöpft, als jeder andere längst Bescheid gewusst hätte. Domenico - unromantisch, aber umso realistischer - will seine Frau nicht verlassen, weil er sich die Alimente nicht leisten könnte. Anna hat weniger zu verlieren, sie gerät in einen echten Zwiespalt und wird unglücklich.
Servicestory für Interessierte
Den Spannungsbogen hält Soldini recht und schlecht durch die Frage aufrecht, ob Anna und Domenico ganz offiziell eine Beziehung eingehen werden, ob ihr Techtelmechtel ein Dauerzustand wird oder ob sich ihre Wege wieder trennen. Die Crux an der allzu realistischen Darstellung ist allerdings, dass das normale Leben eines normalen Paares trotz eines gewöhnlichen Seitensprungs nicht sonderlich packend ist.
Und wenn es dann genauso im Film gezeigt wird und auch durch die Bildsprache oder den Ton keine zusätzliche Ebene eingezogen wird, funktioniert der zwei Stunden lange Streifen, der gut und gerne auch eine halbe Stunde kürzer hätte ausfallen dürfen, am ehesten noch als Servicestory für alle, die es selbst bisher nicht ausprobiert haben: Soll man sich so etwas wirklich antun?
Simon Hadler, ORF.at
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