„Gangsta Nancy Sinatra“
Eines der feinen Dinge am Internet ist, dass man hier Stars in statu nascendi entdecken kann. Man darf sich das wie einen Druckkochtopf vorstellen, der kocht, brodelt, vibriert und dann entweder abkühlt oder explodiert. An diesem Scheidepunkt befindet sich die 24-jährige Sängerin Lana Del Rey.
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Zuerst stellte sie Demos von drei Songs mit Video ins Netz. Einer davon, „Video Game“, hatte auf YouTube bald über 100.000 Zugriffe. Beiträge in Musikblogs folgten, die ersten hymnischen Kritiken waren online. Vom „Song des Jahres“ war die Rede und vom „am meisten erwarteten Newcomer-Album aller Zeiten“.
Mando Diao nahmen sie bei einer MTV-Unplugged-Session mit auf die Bühne. Dann folgte die lokale Presse: Der britische „Guardian“ überschlug sich in seiner Besprechung der Songs. Nota bene - noch immer ist kein Album erschienen, dem „Guardian“ lagen aber 19 Aufnahmen vor, allesamt von unterschiedlichen Produzenten abgemischt. Vergangene Woche schließlich moderierte Starmoderatorin Fearne Cotton höchstpersönlich „Video Game“ auf dem legendären Radiosender BBC1 an, wo er seither immer wieder läuft.
Lebensgefühl: Film noir, Elvis, New York
Viel mehr weiß man nicht über Lana Del Rey. Ein paar Infobrocken wurden über eine Presseaussendung bekanntgegeben. Mit bürgerlichem Namen heißt sie Lizzy Grant. Sie war eigentlich Jazzsängerin und lebte an verschiedenen Orten in den USA, am Ende vor allem in New York - das für sie zur musikalischen und geistigen Heimat wurde. Derzeit hält sie sich dennoch hauptsächlich in London auf.
Und: „Sie liebt Film noir, italienische Landschaften, Mopedroller und die Erinnerung an die Stars vergangener Zeiten wie Bette Davis, Kurt Cobain, Nina Simone und Elvis. All das hält ihre Musik zusammen - und New York ist ihr Herzschlag.“ Momentan sei sie im Studio und nehme endlich ihr erstes Album auf. Sprich eine Plattenfirma dürfte sich gefunden haben.

facebook.com/lanadelrey
Rollenspiele mit Lana Del Rey
Absichtsvoll verbotoxiert
Was also funktioniert bei Lana Del Rey, was bei anderen Künstlern nicht klappt? Der „Guardian“ schreibt, die drei bisher veröffentlichten Songs würden nach einem Konzeptalbum klingen. Man könnte einen Schritt weitergehen: Lizzy Grant hat mit Lana Del Rey eine unterscheidbare Konzeptpersönlichkeit geschaffen, die an jene von Amy Winehouse oder Lady Gaga heranreicht (Empfehlung: Fotos der Frau hinter Gaga im aktuellen „Spex“ - wie sie tatsächlich aussieht).
Lana Del Rey wirkt wie eine Mischung aus Beatrice Dall (die Blinde aus „Night on Earth“) und der jungen Brigitte Bardot, nur eben weder so rebellisch wie die erste noch so fröhlich wie die zweite. Die Lippen sind offensichtlich mit Botox aufgespritzt (ein Fotovergleich voher - nachher auf Google lässt das vermuten). Der Verdacht liegt sogar nahe, das Gesicht wurde absichtlich „verspritzt“ - um den „dirty look“ des gefallenen Mädchens, das sich trotz aller Schicksalsschläge nicht unterkriegen lässt, noch zu verstärken. Marke: glamouröser „White Trash“ mit trauriger Note.
Der weidwunde Blick
Mindestens genauso wichtig wie das Aussehen ist der Referenzrahmen, mit Elvis und Konsorten bereits genannt: Stars der Vergangenheit, auf die sich heute fast jeder einigen kann. Für die einen, ironisch gebrochen, ist das Kult, die anderen mögen einfach die Musik und die Filme. Beide Lesarten zusammen sind meist nur bei längst vergangenen Popphänomenen möglich. Britney Spears und Robin Williams müssen wohl noch vierzig Jahre warten, bis sie zu Ikonen werden.
Und schließlich die Songs selbst. Auf einem Blog wurde der Stil Lana Del Reys als „cinematic dark pop“ beschrieben. Herausragend sind Video, Text und Musik von „Video Game“. Man sieht eine atomare Explosion, dann die Sängerin, abgefilmt in YouTube-Ego-Channel-Manier. Glocken läuten. Sie spielt mimisch und gestisch mit einer Mischung aus White-Trash- und Latino-Image. Ihr Auftreten ist (gewollt) nicht selbstbewusst genug, um entschieden zu wirken, aber sie vertritt dennoch, etwas schüchtern zwar, einen festen Standpunkt. Der weidwunde Blick huscht immer wieder weg von der Kamera, doch er kehrt stets zurück. Ansonsten keine Regung des Gesichts - laszive Langeweile oder wieder Botox?
Skaten, küssen, Videospiele
Die Stimme ist leicht rauchig und fest. Eingespielte Videosequenzen vom Skateboarden sind in Super-8-Ästhetik gehalten, Erinnerungen an eine schöne Jugend, die jetzt gerade stattfindet. Küssen, skaten, im Park oder im Schwimmbad herumhängen, Videospiele spielen: „Das ist es, was ich unter Spaß verstehe“, singt Lana Del Rey.
Die Ambivalenz aus Ernst im Vortrag, den Streichern im Hintergrund auf der einen Seite und auf der anderen Seite die Liebeserklärung an das Leben von Menschen mit wenig Geld und die fröhlichen Bilder - diese Ambivalenz wird durch Sequenzen aus Computerspielen verstärkt. Maschinengewehrfeuer, Bombardements vom Hubschrauber aus, es herrscht Krieg, Menschen sterben. Aber der Tod scheint zum Leben zu gehören - genauso wie das Scheitern. Elvis, und nicht nur er, wird beim Straucheln genauso gezeigt wie in Glanzmomenten.
Böses Mädchen
Im Song „Kinda Outta Luck“ erinnert Lana Del Reys Stimme ein wenig an Marianne Faithfull. „I was born bad“, singt sie, und das wahre Böse wird im Video zum hip-hop-poppigen Song gezeigt: Tom gegen Jerry, der Roadrunner gegen den Koyoten und Szenen aus den Roger-Rabbit-Filmen. Lana Del Rey sieht jetzt aus wie Julia Roberts am Anfang von „Pretty Woman“. Sie taut auf, im Laufe des Songs gibt es sogar Mimik, Quietschen und Haareraufen. Der Geliebte wird entsorgt - was soll man machen, wenn das Böse ruft.
Zu Diet Mtn Dew gibt es ein ähnliches Video, auch wieder mit historischen Filmausschnitten. Der Song ist am ehesten formatradiotauglich. Die „schönste Frau in der Stadt“ gibt sich fordernd: „Glaubst Du, wir werden uns immer lieben?“ Mit einem schnellen Auto fährt man aus der Stadt.
„My idea of fun“
Lana Del Rey bezeichnet sich selbst als „Gangsta Nancy Sinatra“, die das „musikalische Äquivalent zu einem Vincent-Gallo-Film“ sein will. Bereits jetzt scheinen ihr das viele Menschen abzunehmen. Auf Facebook „mögen“ sie Tausende, darunter Stars wie Marina and the Diamonds und Pharell, und auch auf Twitter folgen ihr immer mehr Menschen. Ihre Songs wurden bereits mehrfach (und ganz nett) remixed. Allerorten ist vom Next Best Thing die Rede. Explosion oder Abkühlung? Lana Del Rey wird das Abwarten nicht langweilig werden - denn: „This is my idea of fun“.
Simon Hadler, ORF.at
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