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Vom Islamisten zum Staatsmann

Seit Jahrzehnten hatte kein türkischer Ministerpräsident so viel Macht wie Recep Tayyip Erdogan. Zum letzten Mal führte er im Juni seine Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) in eine Wahl, wie er schon im Vorfeld angekündigt hatte. Darüber, was er nach dieser Legislaturperiode vorhat, wird schon länger heftig spekuliert.

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Noch ist sein Freund Abdullah Gül Präsident. Sollte aber, wie Erdogan andeutet, eine Verfassungsänderung das Amt des Präsidenten massiv aufwerten, könnte er selbst einmal an der Spitze des Staates stehen. Auch nach gut acht Jahren als türkischer Ministerpräsident scheiden sich an Erdogan die Geister. Für die einen ist er ein tatkräftiger Macher, der die Türkei in den vergangenen Jahren zu neuen Höhen geführt hat. Für die anderen ist er ein islamistischer Wolf im demokratischen Schafspelz, der für die wahren Werte der Republik nichts übrig hat.

Im Amt offenbarte Erdogan eine politische Eigenschaft, die ihn bis heute auszeichnet: Er mag als Privatperson ein frommer Muslim sein, doch als Politiker ist er vor allem Pragmatiker. So redete er als Istanbuler Bürgermeister viel vom Neubau von Moscheen, doch in Erinnerung bleibt seine Amtszeit, weil er die Verwaltung auf Vordermann brachte und dafür sorgte, dass die Müllabfuhr und die Wasserversorgung funktionierten.

Kaum konfliktscheu

Doch auch die Kehrseite wurde offenbar: Der Ministerpräsident klagte - meist erfolglos - Karikaturisten, weil er nicht als Katze gezeichnet werden wollte. Frauenverbände reagierten empört, als Erdogan forderte, jedes Ehepaar solle mindestens drei Kinder in die Welt setzen. Die Deutschen erschreckte er mit der Warnung, eine Assimilierung der in Deutschland lebenden Türken sei ein „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Die Beziehungen der Türkei zu Israel rutschten in eine Dauerkrise.

Aufstieg in islamistischer Bewegung

Der junge Erdogan, dessen Eltern aus Rise am Schwarzen Meer ins Istanbuler Arbeiterviertel Kasimpasa übersiedelten, erhielt seine Ausbildung an einer religiösen Schule für muslimische Prediger und Vorbeter. Fast schlug er den Weg einer Fußballerkarriere ein, dann studierte er jedoch Wirtschaft an der Istanbuler Marmara-Universität.

In den 70er und 80er Jahren stieg Erdogan in den islamistischen Parteien seines politischen Ziehvaters Necmettin Erbakan, der grauen Eminenz der islamistischen Bewegung in der Türkei, auf. Mitte der 90er Jahre wurde Erdogan 41-jährig Oberbürgermeister von Istanbul - und landete wenige Jahre später wegen einer flammenden Rede mit den Versen „die Minarette sind unsere Bajonette“ prompt im Gefängnis.

In Haft geläutert

In seiner Haftzeit kam er nach eigenen Angaben zu dem Schluss, dass der radikale Islamismus eine Sackgasse sei - und richtete sich neu aus: als konservativer Demokrat. Zum Pragmatiker geläutert trennte sich Erdogan von den Traditionalisten - und nicht nur: Politiker wie Gül und Bülent Arinc suchten ebenfalls nach einer pragmatischen Alternative.

Im August 2001 gründete Erdogan mit seinen Freunden die AKP. Bereits ein Jahr danach errang die AKP einen überragenden Wahlsieg und fegte die bis dahin regierenden Parteien aus der Volksvertretung. Nach der Aufhebung des mit seiner Gefängnisstrafe einhergehenden Politikverbotes wurde Erdogan im März 2003 türkischer Ministerpräsident. 2007 verteidigte er das Amt eindrucksvoll.

Erdogans Frau Emine gilt als streitbare Vertreterin des Kopftuchs - sie darf deshalb auch keine Staatsempfänge besuchen, weil sie wegen ihres Kopftuchs nicht den Präsidentenpalast betreten darf. Das Paar hat zwei Söhne und zwei Töchter - diese schickte die Familie zum Studieren in die USA, um das Kopftuchverbot zu umgehen.

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