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Wenn richtige Urteile unbefriedigend sind

TV-Moderator Jörg Kachelmann ist am Dienstag im deutschen Mannheim nach einem aufsehenerregenden Prozess vom Vorwurf der Vergewaltigung freigesprochen worden. Dass die Schuldfrage offenbleibt, verhehlte der Richter nicht - im Gegenteil: Das Schlusswort geriet zum emotionalen Plädoyer für den Grundsatz „Im Zweifel für den Angeklagten“.

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Weder sei das Gericht von „der Unschuld von Herrn Kachelmann“ noch von „einer Falschbeschuldigung der Nebenklägerin überzeugt“, betonte der Vorsitzende Richter Michael Seidling gleich zu Beginn der Urteilsbegründung. Es gebe jedoch nach dem neunmonatigen Verfahren weiterhin „begründete Zweifel an der Schuld von Herrn Kachelmann. Er war deshalb nach dem Grundsatz ‚in dubio pro reo‘ freizusprechen.“

Strafpredigt für Medienvertreter

Bevor sich Seidling näher mit der inhaltlichen Begründung des Freispruchs befasste, holte er jedoch zu einer harschen Medienschelte aus: Presse- und Meinungsfreiheit seien zwar elementare Grundrechte, und Gerichte „müssen und sollen damit leben, dass sie durch die Medien öffentlicher Kontrolle unterliegen“ - die Berichterstattung müsse jedoch dem Medienkonsumenten ein unvoreingenommenes Bild bieten und die Würde aller Beteiligten wahren.

Die Berichte seien von „Prognosen“, „einseitig präsentierten Fakten“ und „mit dem Anschein von Sachlichkeit verbreiteten Wertungen“ geprägt gewesen, wetterte Seidling. Damit seien „Stimmungen erzeugt worden, wo Sachlichkeit gefragt ist“. Das habe nicht nur die „Wahrheitsfindung in der Hauptverhandlung“ behindert, sondern auch zu noch tieferen Eingriffen in die Privatsphäre der Beteiligten geführt, als sie ohnehin in einem Gerichtsverfahren unausweichlich seien.

Richter will nicht „unterhaltsam“ sein

Überhaupt bekannte sich Seidling zur Pflicht des Gerichts, auch die Privatsphäre von Angeklagtem und Nebenklägerin zu schützen. Mehrmals während der 43 Verhandlungstage war deshalb die Öffentlichkeit ausgeschlossen worden. Seidling meinte dazu sarkastisch, es sei für das Gericht aber „ohne Belang, ob einer Hauptverhandlung für die breite Öffentlichkeit ein ausreichender Unterhaltungswert zukommt“.

Schließlich wandte sich der Richter aber wieder dem eigentlichen Verfahrensthema zu und hielt fest: Kein einziger im Verfahren präsentierter Beweis habe „die Schuld oder gar die Unschuld des Angeklagten belegen“ können. Es sei „vielmehr festzuhalten, dass die objektive Beweiskette in die eine wie in die andere Richtung immer wieder abreißt“.

„Richtig“ ist nicht immer „befriedigend“

„Wir sind überzeugt, dass wir die juristisch richtige Entscheidung getroffen haben“, so Seidling, aber: „Befriedigung verspüren wir dadurch jedoch nicht. Wir entlassen den Angeklagten und die Nebenklägerin mit einem möglicherweise nie mehr aus der Welt zu schaffenden Verdacht, ihn als potenziellen Vergewaltiger, sie als potenzielle rachsüchtige Lügnerin.“ Auch den Richtern bleibe das Gefühl, „ihren jeweiligen Interessen durch unser Urteil nicht ausreichend gerecht geworden zu sein“.

An Publikum und Medienvertreter gewandt sagte der Richter: „Bedenken Sie, wenn Sie künftig über den Fall reden oder berichten, dass Herr Kachelmann möglicherweise die Tat nicht begangen hat und deshalb zu Unrecht als Rechtsbrecher vor Gericht stand. Bedenken Sie aber auch umgekehrt, dass Frau X. möglicherweise Opfer einer schweren Straftat war.“ Man solle beiden „die jeweils günstigste Variante“ unterstellen und sich „dann vor Augen führen, was beide möglicherweise durchlitten haben“. Nur dann habe man "den Grundsatz ‚in dubio pro reo‘ verstanden. Nur dann kennt der Grundsatz ‚in dubio pro reo‘ nicht nur Verlierer, sondern neben dem Rechtsstaat auch Gewinner.“

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