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Alte Strukturen neu genutzt

Urbane Ballungsräume unterliegen einem ständigen Erneuerungszyklus. Wirtschaft, Technologie und gesellschaftliche Strukturen verändern sich und damit das „Gesicht“ der Stadt, aber auch die Bedürfnisse ihrer Einwohner.

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Am deutlichsten sichtbar ist dieser Wandel an Spuren, die Industrie und Verkehr im Lauf der Zeit hinterlassen: aufgelassene Fabriken und Bahnverbindungen als Hinterlassenschaften „sterbender“ Wirtschaftszweige. Denken Stadtplaner über die Revitalisierung „toter“ Stadtviertel nach, geht es wesentlich um zwei Fragen, die neben anderen Thema einer Konferenz unter dem Titel „Lebenszyklen von Städten und Regionen“ (REAL CORP 2011) diese Woche im deutschen Essen sind: die der „Umdeutung“ ehemaliger Nutzungsstrukturen und die Frage, wie Natur und Kultur unter einen Hut gebracht werden können.

„Keimzellen für neue Entwicklungen“

Industrieruinen und nicht mehr genutzte Flächen seien „Zeugnisse der Vergangenheit, aber auch Keimzellen für neue Entwicklungen“, heißt es in einem Beitrag zu der Tagung unter Beteiligung des in Schwechat ansässigen Central European Institute of Technology (CEIT). „Vor allem ehemalige Industrie-, Hafen- und Bahnflächen sind dabei zum Nährboden für neue Strukturen, Kulturen und Netzwerke geworden.“

„Umnutzung“ alter Substanz

Beispiele für eine derartige „Umnutzung“ finden sich bereits zahlreich, auch in Wien: die Entwicklung des rund 75 Hektar großen Areals des Nordbahnhofs bis 2025, die Umgestaltung der Donaukanalufer als Naherholungsgebiet, die Revitalisierung der ehemaligen Betriebsgründe des Kabelwerks Siemens & Halske bzw. des Gaswerks Leopoldau in Floridsdorf, der in Bau befindliche Wohnpark auf den ehemaligen Mautner-Markhof-Gründen in Simmering und andere.

CORP 2011: Konferenz in Essen

Im deutschen Essen befasst sich zwischen 18. und 20. Mai die „16. internationale Konferenz zu Stadtplanung und Regionalentwicklung in der Informationsgesellschaft“ unter dem Titel „Stabilität durch Veränderung - Lebenszyklen von Städten und Regionen“ mit unterschiedlichen Aspekten der Stadt- und Regionalentwicklung.

Insgesamt umfasst der Stadtentwicklungsplan für Wien, „STEP 05“, 13 ungenutzte Flächen, die mit Rücksicht auf veränderte Ansprüche an urbane Lebensqualität wiederbelebt werden sollen. Dabei stehen in der Regel auch innovative Verkehrskonzepte und nachhaltige Energieversorgung im Vordergrund.

Nicht immer mit der Abrissbirne

Internationale Beispiele sind die HafenCity in Hamburg, wo bis etwa 2025 auf einem Areal von über 150 Hektar Wohnungen für 12.000 Menschen und zumindest dreimal so viele Arbeitsplätze entstehen sollen. Nicht immer muss die Strategie dabei, wie es im Begleitband zu der Tagung heißt, „Tabula rasa“, also Abriss, lauten.

Aufgelassenes Industriegebiet in Beleuchtung

AP/Martin Meissner

Früheres Kohlerevier und UNESCO-Weltkulturerbe Zollverein in Essen

Mitunter sei es viel spannender, die „Identität“ alter Gebäudekomplexe zu erhalten und ihre Potenziale „entsprechend den aktuellen Erfordernissen zeitgemäß“ weiterzuentwickeln. Das gilt zumindest bis zu einem gewissen Grad für die Umgestaltung der Gasometer in Wien-Simmering, die des Areals der früheren Inzersdorfer Nahrungsmittelwerke in Wien-Liesing und das Kabelwerk in Wien-Meidling, wo zumindest historische Gebäudeteile erhalten wurden bzw. aus Denkmalschutzgründen erhalten werden mussten.

Die Natur kehrt zurück

Liegen Industrieflächen lange genug brach, erobert die Natur in der Regel recht rasch einen Teil davon zurück. Diesen Prozess gezielt zu fördern ist die Idee hinter dem Konzept „CultNature“, einem Projekt zur urbanen Entwicklung im nordrhein-westfälischen Ruhrgebiet. Ziel dabei ist es, wie es in einem weiteren Konzeptpapier zu der Essener Konferenz heißt, „aus gestörten Landschaften attraktive Stadträume“ zu machen. Die Nutzung der Brachen soll noch dazu wirtschaftlich interessant sein.

Ambitionierte Idee „CultNature“

Die Erfinder des Konzepts stecken sich ihre Ziele dabei relativ hoch: „Die gestörten Flächen sollen von einer Belastung für die Standort- und Lebensqualität von Städten (…) in Entwicklungsachsen für eine nachhaltige Zukunft transformiert werden.“ Basis dafür ist unter anderem die Idee einer landwirtschaftlichen („agroindustriellen“) Nutzung großflächiger Parkanlagen. „Dazu werden Pflanzen, die zur Erzeugung von Bioenergie geeignet sind, genutzt.“ Diese Grünräume, heißt es weiter, sollen „Stadtteile und Städte nicht nur physisch verbinden“.

Vereinfacht gesagt wollen die Autoren des Konzepts auch möglichst viel gesellschaftliche Aktivität von Straßen und Plätzen an die „grünen“ Lebensadern der Stadt transferieren und attraktive Lebensräume schaffen, die möglichst nachhaltig genutzt werden.

Experimentierfeld „Ruhrpott“

Der „Ruhrpott“ eignet sich nicht nur deshalb so gut für die Idee einer „Renaturierung“, weil die Dichte an Brachen in Deutschlands am dichtesten besiedelten Ballungsraum und Zentrum der Kohle- und Stahlindustrie entsprechend hoch ist. Frühere Industrieareale, Bahntrassen, Kanäle und Wasserflächen bildeten ein Netz möglicher „grüner Entwicklungslinien“ quer durch die Städte, heißt es von den Initiatoren.

Neue Lebensqualität statt Abwanderung

In der Stadt Essen läuft ein entsprechendes Experiment bereits. „Essen. Neue Wege zum Wasser“ ist dort Teil des Stadtentwicklungsprozesses „Step 2015+“ mit derzeit rund 200 Einzelprojekten und dem Ziel der Vernetzung und Entwicklung von Grün- und Freiflächen. Großgeschrieben werden dort laut den Projektbetreibern auch Qualifizierungs- und arbeitsmarktpolitische Maßnahmen.

Ziel ist am Ende nicht nur, das Erbe des wirtschaftlichen Strukturwandels sinnvoll zu nutzen, sondern auch seine Gefahren wie den Verlust von Arbeitsplätzen zu entschärfen. Unter dem Strich sollen die Menschen in den neu belebten Städten eine lebenswerte Umgebung vorfinden, statt die Flucht aus sterbenden Industriegebieten zu ergreifen.

Georg Krammer, ORF.at

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