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Sittenbild der russischen Vorrevolution

Auf den ersten Blick klingt „Platonov“ („Platonow“) von Anton Tschechow wie eine russische Don-Juan-Geschichte. Doch in der Inszenierung von Alvis Hermanis, die am Samstagabend im Wiener Akademietheater ihre Premiere feierte, zeigt sich, dass in dem Frühwerk des Autors viel mehr steckt: ein Sittenbild der russischen Gesellschaft im Umbruch.

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Im Zentrum der Handlung steht der Dorflehrer Platonov - großartig gespielt von „Tatort“-Kommissar und Theaterstar Martin Wuttke -, der auf die Menschen, vor allem die Frauen, eine geradezu magnetische Wirkung ausübt. Dabei ist er weder Charmeur noch Charismatiker. Statt sich nach der Decke zu strecken, steht er selbst ambitionslos auf der sicheren Seite - doch seine an den Tag gelegte Passivität ist Tarnung.

Der Zynismus des traurigen Clowns

„Ich bin ein ruhender Stein, und ruhende Steine sind dazu da, ihrerseits zu behindern“, erklärt Platonov der Frau, die er möglicherweise wirklich liebt. Hohn, Spott und Destruktivität sind die Mittel seiner Wahl, mit denen er den Menschen in seiner Umgebung einen Spiegel vorhält. Damit bleibt ihm das Schicksal des traurigen Clowns nicht erspart: Wer alle durchschaut, wird sich selbst unerträglich.

Platonov verkörpert das moderne Denken und ist seiner Zeit damit voraus. Tschechow zeigt in seinem 1880 verfassten Drama die vorrevolutionäre russische Gesellschaft, die zwar in Zeiten des Umbruchs lebt, sich in der neuen Welt jedoch noch nicht zurechtfindet. Soziale Verschiebungen, Antisemitismus und feministische Ansätze des historisch-politischen Umfelds der Entstehungszeit des Stücks werden ebenso verhandelt wie die zwischenmenschlichen Dramen. Wie in fast allen Tschechow-Stücken liegen dabei Komödie und Tragödie ganz dicht nebeneinander.

Teile des Textes sind nicht verständlich

Hermanis will die Geschichten nicht nur erzählen - er schafft Atmosphären. Das Publikum werde Teile des gesprochenen Textes akustisch nicht verstehen, erklärt der Regisseur in einer Einspielung am Beginn seiner Inszenierung, das sei Absicht und „Teil des Regiekonzepts“. Er nimmt damit vorweg, was sich während der fünfstündigen Aufführung aber auch ohne Ansage als sehr schlüssig erweist.

Schauspieler Sylvie Rohrer und Martin Wuttke

Burgtheater/Georg Soulek

Martin Wuttke und Sylvie Rohrer

Mit seiner hyperrealistischen Inszenierung im optischen Stil eines klassischen Kostümdramas versucht er nämlich gar nicht erst, woran viele Regisseure scheitern: Parallelhandlungen und -dialoge aufzudröseln und wie Perlen auf eine Kette zu fädeln. Stattdessen lässt er das Geschehen ablaufen, wie es im wirklichen Leben auch passieren könnte: Es wird gleichzeitig an mehreren Fronten gelacht, gesprochen und gestritten.

Voyeuristischer Blick in den Salon

Die vierte Wand hat für Hermanis oberste Priorität: Aus einer fast voyeuristischen Position sieht das Publikum die Geschehnisse aus rund 24 Stunden im Leben auf dem Landgut, das auch schon bessere Tage gesehen hat. Man blickt in den Salon und durch hohe Türen und Fenster auf die Terrasse und in ein Speisezimmer.

Monika Pormales Bühnenbild ist bis ins kleinste Detail naturalistisch und stimmig. Beeindruckende Lichtstimmungen (Gleb Filshtinski) lassen den Zuschauer förmlich die flirrende Hitze des russischen Frühsommers und den kühlen Nebel in den Morgenstunden, der durch die offenen Salontüren zieht, spüren.

Grandiose schauspielerische Leistungen

Mit Dörte Lyssewski als Anna Petrovna, Generalswitwe und Gastgeberin, stellt Hermanis Platonov nicht nur eine intellektuell ebenbürtige Frauenfigur, sondern auch eine grandiose Spielpartnerin zur Seite. Sie ist die Grande Dame, die durch ihren schroffen Ton die kasernierte Gesellschaft im Dämmerzustand zusammenhält und mit Ansagen wie „Rauch mich wie eine Zigarette!“ nicht nur Platonov für sich begeistern kann.

Doch auch die anderen Rollen sind hochkarätig und perfekt typgerecht besetzt - Burg-Chef Matthias Hartmanns Ansage, das Ensemble würde unter seiner Direktion so viel zu sehen sein wie nie, bewahrheitet sich damit erneut. So glänzen neben Peter Simonischek, Martin Reinke, Michael König und Philipp Hauß vor allem die Frauenrollen: Johanna Wokalek als fragile Ex-Geliebte, Yohanna Schwertfeger als Platonovs abgewiesene Verehrerin und Sylvie Rohrer als betrogene Ehefrau.

Verdienter Applaus für alle Beteiligten

Mit welcher Kraft die Schauspieler das Spektakel in Überlänge stemmen, zeigt sich durch die Erschöpfung beim wohlverdienten Schlussapplaus. Dass dieser bei der Premiere zwar lang und sehr freundlich, aber nicht frenetisch ausfiel, lag wohl eher an Ermüdungserscheinungen im Publikum als an mangelnder Begeisterung über die hervorragenden Leistungen von Regie und Darstellern.

Sophia Felbermair, ORF.at

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Veranstaltungshinweis:

„Orkus. Reise zu den Toten“

Buchpräsentation Burgtheater, 12. Mai, 20 Uhr, mit Gerhard Roth und Petra Morze, Peter Matic u.a.

32 Jahre lang hat Gerhard Roth an seinen beiden Romanzyklen „Die Archive des Schweigens“ und „Orkus“ gearbeitet – ein einzigartiger Kosmos der Literatur und des Denkens, der neben klassischen Romanen auch dokumentarische und essayistische Bände umfasst. Der Band „Orkus“ ist der Schlussstein dieser monumentalen Arbeit und nicht überbietbarer Endpunkt: ein autobiographischer Roman, in dem das Leben des Autors mit dem seiner Figuren auf faszinierende Weise verschmilzt.