Der „unrussische“ Klassiker
Anton Pawlowitsch Tschechow (1860 bis 1904) kannte das Leid aus eigener Erfahrung, aus der Sicht als Arzt und wusste davon ingeniös zu erzählen: In bescheidenen Verhältnissen im Süden Russlands aufgewachsen, musste er schon als Medizinstudent in Moskau seine verarmten Eltern und Geschwister ernähren - zunächst mit erbärmlich bezahlten parodistischen Kurztexten, später als Arzt.
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„Die Medizin ist meine gesetzliche Ehefrau, die Literatur meine Geliebte“, schrieb Tschechow 1888. In humoristischen Journalen hatte er das pointierte, verdichtete Schreiben geübt, das seinen späteren Stil so unverkennbar machen sollte. „Aus der ständigen, gewohnten Angst, Überflüssiges zu schreiben, verfalle ich ins Extrem“, hielt er fest. Sein Motto „Die Kürze ist die Schwester des Talents“ wurde im 20. Jahrhundert zum Leitspruch unzähliger Autoren, die durch Tschechow die Kunst der Kurzgeschichte erlernten.
Knappheit statt epische Breite
Literarische Erfolge feierte Tschechow schon als angehender Mediziner („Der Tod des Beamten“, „Der Dicke und der Dünne“, beide 1883). 1888 entstand die großartige Prosa „Die Steppe“, ebenso das Drama „Der Bär“, noch im selben Jahr erhielt er für den Sammelband „In der Dämmerung“ den Puschkin-Preis. Die Tuberkulose zwang Tschechow zu immer längeren Aufenthalten auf der Krim. Dennoch nahm er 1890 die beschwerliche Reise zu den Straflagern von Sachalin auf sich, um über das Elend der Gefangenen zu berichten.
Hoffnung ohne Verklärung
Tschechows Erzählungen lösten in der russischen Literatur die Romantradition eines Fjodor Dostojewski und Leo Tolstoi ab. „Tschechow steht in der Technik weit höher als ich“, sagte sogar Tolstoi anerkennend. Doch es war mehr als Technik. Tschechows zwischen kritischem Realismus und literarischem Impressionismus oszillierende Werke sind auch eine Absage an Verklärung, Langatmigkeit und trügerische Hoffnung.
Einen Dammbruch für die Moderne bedeutete nicht nur Tschechows Kurzprosa. Seine Dramen zählen bis heute zu den meistgespielten Stücken der Weltliteratur, allen voran „Die Möwe“ (1896), „Onkel Wanja“ (1897), „Drei Schwestern“ (1901) und „Der Kirschgarten“ (1904). Sehnsüchte, Dekadenz, unglückliche Liebe, Trunkenheit und Desillusionierung der fein ziselierten Charaktere haben in hundert Jahren nichts an Aktualität eingebüßt.
„Der subtilste Analytiker menschlicher Beziehungen“
Seine typische Gratwanderung zwischen Tragik und Leichtigkeit erzeugt ungeheuer verdichtete Stimmungsbilder, gebrochen von einmal milderem, einmal sarkastischerem Humor. „Lachen unter Tränen“ nannte er seine Methode. Die Figuren der ausgehenden Zarenzeit, die Tschechow auf die Bühne brachte, wirken bis heute durch und durch modern. „Er ist der subtilste Analytiker menschlicher Beziehungen“, schrieb Virginia Woolf über Tschechow.
Sein weitgehender Verzicht auf äußere dramatische Handlungen ermöglichte ihm die Konzentration auf das Neben- und Gegeneinander von Stimmungen und Seelenzuständen. Die tragikomischen Helden reden nur indirekt miteinander. Sie spüren, dass sich ihre Lebensweise überlebt hat, doch sie sind zu kraftlos, zu sehr gefangen in ihren Lebenslügen, um einen Neuanfang zu wagen. „Warum leben wir nicht so, wie wir leben könnten?“, fragt eine Figur in „Platonow“ symptomatisch.
Früher Tod in Badenweiler
„Nach Moskau!“, lautet wiederum der zentrale Satz in „Drei Schwestern“ und paraphrasiert damit gleichzeitig Lebenswillen und Resignation. Die russische Hauptstadt sollte Tschechow selbst nicht mehr wiedersehen. Nach langer Lungenkrankheit starb er am 15. Juli 1904, erst 44-jährig, im deutschen Kurort Badenweiler. Seine Frau, die Schauspielerin Olga Knipper-Tschechowa, überlebte ihn um ganze 55 Jahre.
Tschechow von Wien bis Bregenz
Auf den Spielplänen der österreichischen Theater zählen Tschechows Stücke heute mehr denn je zum Standardprogramm. In der Saison 2010/2011 zeigt etwa das Theater in der Josefstadt „Drei Schwestern“ in der Regie von Torsten Fischer, dasselbe Stück inszeniert Maria Happel für die Festspiele in Reichenau. Das Burgtheater zeigt in der Regie von Alvis Hermanis, einem erprobten Tschechow-Regisseur, mit „Platonov“ („Platonow“) ein eher selten gespieltes Werk des russischen Autors.
„Der Kirschgarten“ ist am Tiroler Landestheater (Regie: Thomas Oliver Niehaus) zu sehen und wird in einer experimentellen Form in einer Inszenierung des finnischen Regisseurs Kristian Smeds im Rahmen der Festwochen in Wien gastieren. Das Bregenzer Theater am Kornmarkt zeigt das eher unbekannte Stück „An der großen Straße“ inszeniert von Katja Lehmann.
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