Zwei links, zwei rechts
Was früher als altmodisch und bieder galt, erlebt derzeit eine Renaissance: Handwerken liegt wieder voll im Trend. Hippe Stadtmenschen treffen sich in Strickcafes, schneidern sich ihre Outfits selber im Nähsalon und verkaufen handgemachten Schmuck und selbstgetöpferte Vasen online. Das Selbermachen ist dabei längst mehr als ein Hobby, es wird zur Lebensphilosophie.
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Zur beliebtesten Plattform für den Handel mit Selbstgemachtem entwickelten sich die Onlineportale Etsy und DaWanda, auf denen Kreative ihre Waren einfach und günstig an den Mann bringen können. Etsy setzt derzeit verstärkt auf den boomenden Markt in Europa.
Die Plattform der Selbermacher
Im Frühling 2005 startete Etsy aus einer Studentenbude in New York. Robert Kalin baute selber Möbel und wollte diese online verkaufen, erkannte aber, dass es keinen geeigneten Marktplatz dafür gab. Mit zwei Programmierern und etwa 30.000 Dollar Startkapital legte man los – heute arbeiten rund 170 Menschen für Etsy, der Hauptteil davon in den USA. Nun setzt das Unternehmen auf Europa-Expansion und stationiert Mitarbeiter in Metropolen wie Berlin, London und Paris. Der Jahresumsatz soll sich heuer auf rund 600 Millionen Dollar verdoppeln, wie Europa-Chef Matt Stinchcomb im Gespräch mit ORF.at erklärt.
Und die kreative Gemeinde wächst. „Wir haben mittlerweile rund acht Millionen registrierte User“, so Stinchcomb. Etwa 500.000 davon seien aktive Verkäufer. Das Einstellen eines Artikels kostet 20 Cent für einen Monat, Etsy erhält weiters 3,5 Prozent Provision beim Verkauf. 95 Prozent der Nutzer seien Frauen, wobei der Männeranteil in letzter Zeit etwas steige.
Verstaubtes Image abgelegt
Auch in Österreich setzt sich der Trend zum Selbermachen durch. In Wien hat etwa unlängst mit „Madame Kury“ eine Nähstube nach internationalem Vorbild eröffnet. In Paris, London und Berlin sind solche Lokale bereits gang und gäbe. Das Prinzip ist einfach: Besucher können in dem Geschäft Nähmaschinen samt Beratung in Anspruch nehmen, allein oder in Gruppen. Workshops, die auch für Kinder angeboten werden, kosten 20 Euro in der Stunde.
„Die alten, verstaubten Fesseln sind weg“, erklärt Initiatorin Brigitte Kury den Retrotrend zum Selbermachen. Es sei eine neue Generation herangewachsen, die Handwerken nicht als Zwang aus der Kindheit kennt, sondern darin einen Weg sieht, ihre Kreativität auszuleben. Die Verkaufsplattformen würden den Kreativen Öffentlichkeit und auch die Möglichkeit geben, sich in einer Community zusammenzufinden. Die Do-it-yourself-Szene in Österreich sei derzeit noch überschaubar, aber am Wachsen.
Onlinestrickkurse und „Guerilla Knitting“
Auf eine große Community kann auch die Österreicherin Elisabeth Wetsch verweisen, die auf dem Onlineportal YouTube unter dem Namen „elizzza“ Strick- und Häkelkurse gibt, und dabei bereits mehr als fünf Millionen Views verbuchen kann. Über ihre Website Nadelspiel verkauft sie Strick- und Häkelmuster sowie Selbstgemachtes. Eine Stimme findet die Do-it-yourself-Community mittlerweile im deutschen „Cut-Magazin“, das sich mit verschiedensten Handwerksdisziplinen auseinandersetzt.
Unter dem Motto „Wiener Umschlag“ treffen sich heimische Hobbystrickerinnen regelmäßig auf öffentlichen Plätzen, in Kaffeehäusern und Bars. Während in New York, London und Paris seit Jahren immer wieder quasi über Nacht Zäune, Denkmäler und ganze Fahrzeuge eingestrickt werden, macht sich „Guerilla Knitting“ seit kurzem auch in österreichischen Städten bemerkbar. Das erste große Projekt stellten die „Strickistinnen“ im März unter dem Titel „Knit her story“ auf die Beine. Anlässlich des 100. Frauentags wurden zahlreiche Objekte entlang der Wiener Ringstraße umstrickt - mehr dazu in oe1.ORF.at
Kommerzieller Erfolg ist harte Arbeit
Für den kommerziellen Erfolg auf Plattformen wie Etsy ist laut Stinchcomb vor allem die eigene Motivation ausschlaggebend: „Am Ende des Tages sind die Leute erfolgreich, die gute Dinge produzieren. Sie bekommen mehr Interesse, stellen häufiger Produkte ein und kommen an die Oberfläche“. Im Prinzip sei der Verkauf auf Etsy mit einem eigenen kleinen Unternehmen zu vergleichen, in das man viel Zeit und Arbeit stecken und sich um Werbung kümmern müsse.
Motivierte Selbermacher können dann durchaus davon leben. „Wir haben ein paar Hundert Leute, die wirklich viel Geld machen - im sechsstelligen Bereich“, verrät Stinchcomb ORF.at. Ein Paar Tausend nähmen seiner Meinung nach so viel ein, dass sie davon leben können. „Die meisten Leute auf Etsy sehen nicht das Geld als Motivation, sie wollen das Gemachte mit anderen teilen, in der Community.“
„Handgemacht ist eine Lebensweise“
Auf die Frage nach der Zukunft von Etsy und dem Selbermachern wird Stinchcomb philosophisch: „Handgemacht ist für uns nicht einfach eine Produktionsweise, sondern eine Art zu leben.“ Er sieht durch den Trend zum Selbermachen die Möglichkeit eines wirtschaftlichen Umbruchs: „Mikroökonomien und speziell lokale Mikroökonomien sind viel mehr als nachhaltiges Kapital in der Zukunft. Uns interessiert, wie Individuen die Art und Weise verändern können, wie Welthandel funktioniert. Anstatt eine Handvoll großer Firmen zu haben, die alles machen, wollen wir eine große Zahl an Individuen und kleinen Firmen, die alles machen. Es geht also keineswegs nur um Objekte, sondern um viel mehr“, sagt Stinchcomb.
Nayla Haddad, ORF.at
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