Nicht nur Frage der Ethik
Ist Al-Kaida-Führer Osama bin Laden gezielt liquidiert worden? Oder gab es den Befehl, ihn nach Möglichkeit festzunehmen, um ihn vor ein Gericht zu stellen? In den USA als von den Terroranschlägen vom 11. September betroffenes Land ist die Frage eher ein Randthema. Dort überwog nach der Nachricht vom Tod des meistgesuchten Extremistenführers der Welt der Jubel.
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Anders in Europa, wo nun doch Fragen zur Rechtmäßigkeit von „Kill-Missions“ aufgeworfen werden. Grund dafür waren anfangs Berichte von US-Medien, wonach die Kommandoeinheit, die das Anwesen Bin Ladens im pakistanischen Abbottabad in der Nacht auf Montag gestürmt hatte, den klaren Auftrag gehabt habe, ihn zu töten. Dem widersprach zwar der Anti-Terror-Berater von US-Präsident Barack Obama, John Brennan, mit den Worten, auch eine Festnahme sei eine Variante gewesen.
Allerdings wurden am Dienstag erneut Zweifel an dieser Version laut, als das Weiße Haus mitteilte, Bin Laden sei unbewaffnet gewesen, als er durch zwei Schüsse in den Kopf starb. Er habe sich „auf andere Weise gewehrt“, ließ der Sprecher des Weißen Hauses, Jay Carney, wissen. Am Mittwoch zitierte der TV-Sender al-Arabija noch dazu aus Verhörprotokollen mit Bin Ladens bei der Aktion festgenommener minderjähriger Tochter. Sie soll ausgesagt haben, ihr Vater sei erst festgenommen und danach erschossen worden.
„Hat mit Gerechtigkeit nichts zu tun“
Das nährt nun weitere Spekulationen, wonach sich die USA einen Bin Laden-Prozess und mögliche Schwierigkeiten für Obama ersparen wollten. Wahrscheinlich wäre es auch nicht einfach gewesen, dem Terrorpaten die direkte Drahtzieherschaft für die 9/11-Anschläge nachzuweisen.
Der prominente australische Menschenrechtsanwalt Geoffrey Robertson sagte am Mittwoch, die Erschießung Bin Ladens habe mit Gerechtigkeit nichts zu tun. „Gerechtigkeit heißt, jemanden vor Gericht zu stellen, ihn auf Grundlage von Beweisen für schuldig zu befinden und ihn dann zu verurteilen“, sagte er in einem TV-Interview. Nach dem, was man jetzt wisse, könne der Einsatz des US-Kommandos auch ein kaltblütiger Mord gewesen sein.
„Eine Grenze überschritten“
Der Extremistenführer hätte festgenommen und in die USA überführt werden müssen, so der niederländische Spezialist für internationales Recht, Gert-Jan Koops. In Indien sagte der einflussreiche muslimische Geistliche Syed Ahmed Bukhari, die USA würden nach dem Gesetz des Dschungels handeln. „Die Menschen haben lange stillgehalten, aber nun ist eine Grenze überschritten.“
Auch der deutsche Außenminister Guido Westerwelle warnte vor überzogenen Freudenreaktionen auf den Tod des Extremisten, wenn auch aus einer etwas anderen Perspektive. „Wir müssen aufpassen, dass wir mit unseren Reaktionen im Westen - bei allem Verständnis über die Erleichterung - nicht Bilder in die Welt senden, die wiederum nur zu einer Aufstachelung oder Heroisierung Al-Kaidas beitragen“, sagte er der „Welt“.
Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte am Montag gesagt: „Ich freue mich, dass es gelungen ist, Bin Laden zu töten.“ In deutschen Pressekommentaren hatte es dagegen geheißen, es wäre den USA besser zu Gesicht gestanden, eine Antwort auf den Terror zu finden, die etwas mit Rechtsstaatlichkeit zu tun hat.
Ein „Zirkus“ von Prozess
Aber auch in den USA mutmaßen einzelne Kommentatoren, Washington habe die einfachere Variante gewählt, um sich Schwierigkeiten zu ersparen. „Ich glaube, das Weiße Haus atmet jetzt wahrscheinlich erleichtert auf, dass er letztlich getötet und nicht gefangen genommen wurde“, sagte Andrew Exum vom Center for a New American Security (CNAS), einem Thinktank in Washington. Eine Festnahme wäre gefährlich gewesen, und die Haft und der Prozess wären zum „Zirkus“ geworden. „Wie wir ihn in unserem Rechtssystem zur Rechenschaft gezogen hätten, wäre kompliziert gewesen.“
Wäre Bin Laden festgenommen worden, wäre er aller Wahrscheinlichkeit nach in das umstrittene US-Gefangenenlager Guantanamo auf Kuba gebracht worden. Anschließend wäre es zu einem Prozess vor einem zivilen oder einem Militärgericht gekommen. Bei jedem Detail der Behandlung Bin Ladens hätte Obama den prüfenden Blicken der eigenen Bevölkerung und der Welt standhalten müssen und wäre damit auch möglicher Kritik ausgesetzt gewesen.
„Was ist das für ein Land?“
Hart ins Gericht mit der „einfachen Lösung“ ging ein Kommentar der deutschen ARD. „Was ist das für ein Land, das eine Hinrichtung derart bejubelt? Zivilisierte Nationen haben einst das Völkerrecht geschaffen. Sie verständigten sich darauf, dass Verbrecher vor Gericht gestellt und nicht einfach getötet werden.“ Obama habe mit der Aktion keine neuen Lösungen präsentiert, sondern sich direkt in die Fußstapfen seines republikanischen Amtsvorgängers George W. Bush begeben, der einst den „Krieg gegen den Terror“ erklärt und für Bin Laden die Devise „tot oder lebendig“ ausgegeben hatte.
Völkerrechtlich dünnes Eis
Abgesehen vom ethischen Aspekt ist auch fraglich, ob und wie weit Washington mit der Aktion den Boden des Völkerrechts verlassen hat. Die Tötung eines Terroristen sei „wirklich nur als Ultima Ratio“ denkbar, sagte der österreichische Völkerrechts- und Menschenrechtsexperte Manfred Nowak im Gespräch mit der APA. Eine "Mission to kill“ sei „sicher nicht in Ordnung und völkerrechtlich nicht gedeckt“.
Wenn der Auftrag jedoch die Festnahme des Al-Kaida-Chefs war, wie beteuert wird, müsse der Hergang des Einsatzes der Spezialkräfte untersucht werden, so der langjährige UNO-Berichterstatter für Folter, der forderte: „Das Video müsste der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.“
Eine Begründung, dass eine Tötung im Kriegszustand gerechtfertigt sei, hält Nowak nicht für zulässig. Zwar wird im Völkerrecht anerkannt, dass nicht nur Staaten, sondern auch nicht staatliche Organisationen gegeneinander Krieg führen können, jedoch erklärt Nowak: „Al-Kaida ist eine Gruppe der organisierten Kriminalität, und somit handelt es sich um eine Frage des Strafrechts.“ Pakistan befinde sich allerdings nicht im Krieg, und auch der „Krieg gegen den Terror“ sei rechtlich keiner.
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