Aufbruch aus Galiläa
Zum letzten Weg im Leben des Jesus von Nazareth liegen die dichtesten biografischen Beschreibungen vor. Alle Evangelisten berichten detailliert die Stationen vom Einzug in Jerusalem bis zum Tod am Kreuz. Die Motivation für den Weg Jesu aus dem ländlichen Galiläa nach Jerusalem scheint klar. Doch der Anführer einer innerjüdischen Erneuerungsbewegung musste mit einem breiten, gerade auch politischen Konfliktfeld rechnen.
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„Jesus erhebt in der Tat einen königlichen Anspruch“, schreibt Papst Benedikt XVI. als Theologe im zweiten Teil seiner Jesus-Biografie. „Er will sein Handeln und sein Tun von den Verheißungen des Alten Testaments her verstanden wissen, die in ihm wirklich werden.“ Und: „Jesus lebt im Wort Gottes, nicht aus eigenem Programm heraus.“
„In der Konsequenz des Auftrags“
Auch für den 2004 verstorbenen Erlanger Theologen Jürgen Roloff, der in seiner Forschung die Bedeutung des historischen Jesus für die neutestamentarische Verkündigung betonte, ist der Grund für die Reise Jesu kaum fraglich: „Wusste Jesus sich als Träger des prophetischen Auftrags, ganz Israel mit der Botschaft von der nahen Gottesherrschaft zu konfrontieren und die endzeitliche Sammlung des Gottesvolkes einzuleiten, so lag der Gang nach Jerusalem in der Konsequenz des Auftrags.“ Jerusalem war der religiöse Mittelpunkt, auf den das weithin zerstreute Judentum ausgerichtet war.

Corbis/Richard T. Nowitz
Der Tempel von Jerusalem in einer versuchten Rekonstruktion
Jesus und das Judentum
Jesus teilte mit seiner innerjüdischen Reformbewegung die Grundüberzeugungen des Judentums: den Monotheismus, dass es mit Jahwe nur einen Gott gibt. Und die besondere Beziehung zwischen Gott und dem Volk Israel. Der Bund zwischen Gott und seinem Volk ist ein Geschenk.

Reuters/Osservatore Romano
„Der Weg Jesu erscheint bei Lukas geradezu als ein einziges Hinaufsteigen von Galiläa nach Jerusalem.“ (Papst Benedikt XVI.)
Das Judentum zur Zeit Jesu war eine Tempelreligion. Nur an einem Ort, dem Tempel in Jerusalem, ließ sich Gott verehren. Das geschah ohne Gottesbild. Daneben gab es in der Zeit des Wirkens Jesu Synagogen, in der Regel Privaträume, die der Gemeinschaft der Gläubigen zur Verfügung standen (die hebräische Bezeichnung für die Synagoge ist „Beth knesset“, also Haus der Versammlung). Herrschten im Tempel die Priester, so wurde in den Synagogen der Zeit die Laienreligiosität gepflogen.
Jesus in der Synagoge
Unter den Pharisäern, der Opposition gegen die durch die Sadduzäer repräsentierte konservative, priesterlich-aristokratische Oberschicht, hatten Synagogen die Funktion einer religiösen Schule. Auch Jesus sprach, wenn man dem Markus-Evangelium (1, 21) folgt, als Laie in den Synagogen: „Sie kamen nach Kapernaum. Am folgenden Sabbat ging er in die Synagoge und lehrte.“
Die Jesus-Bewegung war nicht die einzige Erneuerungsbewegung innerhalb des Judentums, die in Palästina nach der Machtübernahme der Römer unter Pompeius (63 v. Ch.) entstanden war. Viele aufständische Gruppen der Zeit sehnten sich nicht zuletzt nach einem charismatischen, politischen Führer.
Unterwegs zum historischen Jesus
Lassen sich die historischen Umstände, die zum Tod von Jesus von Nazareth geführt haben, klären? Dass Jesus tatsächlich gelebt hat und in seiner Zeit eine innerjüdische Erneuerungsbewegung anführte, erscheint heute unbestritten. „Außer der selten angezweifelten Tatsache, dass Jesus unter Pontius Pilatus gekreuzigt wurde, gibt es keine einhelligen Ansichten darüber, wer den Anstoß zu seiner Verurteilung gegeben hat und aus welchen Gründen Jesus hingerichtet wurde“, schreiben Gerd Theißen und Annette Merz in ihrem Standardwerk „Der historische Jesus“.
Die Rede von einer neuen Herrschaft
Die Rede von einem neuen, messianischen König bedrohte nicht nur die Priester im Tempel, sondern auch die römische Herrschaft in Palästina. „Während viele Erneuerungsbewegungen einen direkten Protest gegen die militärisch überlegenen Fremdherrscher zum Ausdruck bringen“, wie Gerd Theißen und Annette Merz in ihrem Werk zum historischen Jesus berichten, habe Jesus seine Bewegung von Anfang an mit einem stark integrativen Zug ausgestattet. Er richte sich bewusst an alle, „die traditionellen Normen nicht entsprechen und am Rand stehen“.
Mitbeeinflusst mag die offene Haltung Jesu auch von seiner Herkunft aus Galiläa gewesen sein. Die Provinz war eine jüdische Enklave, die mit den Städten Sidon und Tyros im Nordwesten und der Provinz Samaria im Süden zahlreiche Hochburgen des Hellenismus um sich hatte. Das religiöse Zentrum des Judentums, Jerusalem, war von Galiläa jedenfalls weit entfernt.
Erst zum Ende seines Lebens wird Jesus mit seinen Jüngern in dieses Jerusalem ziehen und damit nicht nur in einen theologischen, sondern auch einen sozialen und politischen Konfliktraum eintreten. Eine Gruppe vom Land gegen die Stadt, ein Mann, der sich gegen die Priester des Tempels erhebt (also Reformer vs. Bewahrer) - und nicht zuletzt waren da die Römer, die kein Interesse an aufrührerischen Tendenzen innerhalb des Judentums hatten.

Corbis/Brooklyn Museum/James Tissot
Jerusalem zur Zeit Jesu - in der Vorstellungswelt des 19. Jahrhunderts eines James Tissot
Verkündigung gegen den Tempel
Jesus trat mit seiner Prophetie gegen den Tempel auf - und wie schon vor ihm kam die Opposition gegen den Tempel (etwa Micha und Jeremia) vom Land und nicht aus der Stadt Jerusalem.
Zum Pessachfest, einem der drei großen Wallfahrtsfeste der Zeit, an dem Jesus mit seinen Jüngern in Jerusalem einzog, war die Stadt voll mit anderen Menschen vom Land. Die, die beim Einzug Jesu „Hosianna“ (Mk, 11, 8) riefen, waren nicht die Menschen aus der Stadt, sondern jene, die mit Jesus vom Land nach Jerusalem gekommen waren. „Die Bevölkerung der Stadt wird durch seine Prophetie gegen den Tempel eher irritiert gewesen sein“, mutmaßt Theißen.
Pessachmahl in christlicher Deutung
„Der Eintritt von Jesus in seine Passion ist mit einem Mahl verbunden, das tief in der jüdischen Tradition wurzelt, es war das Pessachmahl. Pessach ist auch der Rahmen, an dem Jesus sein Abendmahl gehalten hat. Er hat einen Segen gesprochen, allerdings mit einer neuen Deutung. Er hat das Brot gebrochen und gesagt: ‚Das ist mein Leib.‘ Und nach dem Mahl hat er einen Becher mit Wein genommen und darüber gesagt: ‚Das ist mein Blut.‘ Seither feiern die Christen das jüdische Pessach in der christlichen Deutung, die Jesus ihm gegeben hat, indem er selbst uns zur Speise und zum Trank schenkt.“ (Kardinal Christoph Schönborn in „Gedanken zum Tag“ vom 21. April, nachzuhören in Sieben Tage Ö1)
Jesus dürfte sich bewusst gewesen sein, dass er mit dem Weg nach Jerusalem ein hohes Risiko einging. Sowohl die Priesterschaft als auch die Römer mussten sein Wirken als Provokation empfinden. Für seine vier Tage, die er in Jerusalem gewirkt haben dürfte, nahm er sich mit dem Tempel eine Stätte, auf die die größtmögliche Aufmerksamkeit fiel. Die „Tempelreinigung“ versteht Roloff vor allem als Zeichensetzung durch Jesus, mit der er bewusst an die Haltung früherer Propheten anknüpfen wollte: „Das Ende des altehrwürdigen Heiligtums ist gekommen; etwas endzeitlich Neues tritt an seine Stelle.“ Und der Anspruch Jesu, der Bringer der Gottesherrschaft zu sein, hieß in der Verbindung mit dem Ort Jerusalem: die Erwartung eines davidsmessianologischen Heilskönigs - was nicht nur die Priesterschaft, sondern auch die Römer beunruhigen musste.
„Aus was für Macht tust du das?“
Anlass zur Festnahme Jesu, für die letztlich ein unspektakulärer Ort abseits des Tempels gefunden werden musste, war für die Priesterschaft die Tempelaktion von Jesus gewesen. Jesus stellte mit seinen Handlungen für die Priesterschaft eine Bedrohung des Tempelkults dar (was auch ökonomische Fragen betraf). Für die Priester war dementsprechend entscheidend, mit welcher Vollmacht Jesus seine Handlungen im Tempel begründete.
Markus (11, 28) berichtet darüber: „Und da er im Tempel wandelte, kamen zu ihm die Hohepriester und Schriftgelehrten und die Ältesten und sprachen zu ihm: Aus was für Macht tust du das? Und wer hat dir die Macht gegeben, dass du solches tust? Jesus aber antwortete und sprach zu ihnen: Ich will euch auch ein Wort fragen; antwortet mir, so will ich euch sagen, aus was für Macht ich das tue. Die Taufe des Johannes, war sie vom Himmel oder von den Menschen? Antwortet mir! (...) Und sie antworteten und sprachen zu Jesus: Wir wissen’s nicht. Und Jesus antwortete und sprach zu ihnen: So sage ich euch auch nicht, aus was für Macht ich solches tue.“
Warum schalten sich die Römer ein?
Für die Römer blieben diese Vorgänge vorerst eine innerjüdische Angelegenheit. Vor allem keine, auf die sie rechtlich zu reagieren hatten. Entscheidend war nun der Punkt, Jesus als Risiko für die öffentliche Ordnung darzustellen. Seine Tempelaktion wird von den Priestern somit auch als politische Handlung interpretiert: Die Römer sollten Jesus als Risikofaktor für die öffentliche Ordnung wahrnehmen. Der römische Präfekt Pontius Pilatus wird den Sachverhalt um das Wirken Jesu auf einen schlagkräftigen Nenner bringen: Hier stehe jemand, der sich zum „König der Juden“ aufgeworfen habe. Die Verurteilung Jesu zum Pessachfest inmitten einer aufgeheizten Stimmung konnte als deutliches Signal mit abschreckender Wirkung wahrgenommen werden.
Eine Pessach-Amnestie, mit der ein als Zauderer hingestellter Pilatus das Volk über das Schicksal Jesu entscheiden ließ, gilt in der Forschung als ausgeschlossen. Die Wahrnehmung von Pilatus als Zauderer, dessen Ziel einer Amnestie durch den Hass der jüdischen Volksmenge durchkreuzt worden sei, interpretiert Roloff als judenfeindliche Tendenz im christlichen Passionsbericht. „Pilatus aber sprach zu ihnen: Was hat er Übles getan? Aber sie schrien noch viel mehr: Kreuzige ihn!“, heißt es etwa bei Markus.
Bücher zum Thema:
- Papst Benedikt XVI.: Jesus von Nazareth, Bd. II: Vom Einzug in Jerusalem bis zur Auferstehung. Herder, 368 Seiten, 22 Euro.
- Jürgen Roloff: Jesus. C. H. Beck, 127 Seiten, 8,40 Euro.
- Gerd Theißen, Annette Merz: Der historische Jesus. Vandenhoeck & Ruprecht, 557 Seiten, 33,90 Euro.
Schuldfrage lässt sich nicht klären
Jesus wurde als einer, der die politische Macht an sich reißen und öffentlichen Aufruhr stiften wollte, verurteilt. Die Frage nach der „Schuld“ am Tod Jesu sei aber „unsachgemäß“, meinen die Theologen Theißen und Merz. Man könne nur herausfiltern, wer Verantwortung für seine Hinrichtung trug. Sie erinnern auch daran, dass Jesus selbst sein „Ende riskiert“ habe mit seiner Entscheidung, nach Jerusalem zu ziehen.
Mit dem letzten Abendmal, dem Tod am Kreuz und dem Glauben an seine Auferstehung und Wiederkehr wird Jesus für seine Jünger zum Gewährsmann für eine neue Epoche. Im Zentrum der Jünger stand, woran Roloff erinnert, „Jesus als ‚Christus‘, an dem Gott in einzigartiger Weise gehandelt hatte“.
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