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Verstrahlte Orte als „Naturräume“

Die Sperrzone rund um Tschernobyl ist öffentlich nicht zugänglich. Ein Fotograf begab sich dennoch in den Gefahrenbereich und machte beeindruckende Bilder einer geisterhaften Gegend, die sich die Natur vom Menschen zurückerobert hat. Die Region rund um den Reaktor ist aber nicht unbewohnt.

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Einige Hundert „Robinson Crusoes“, wie sie im Bildband „Verlorene Orte. Gebrochene Biografien“ von Rüdiger Lubricht genannt werden, leben entgegen jeder Warnung in der Sperrzone. Die meisten von ihnen sind ältere Menschen, die wieder in ihre ursprüngliche Heimat zurückgekehrt sind, weil sie sich an ihre neue Umgebung nie gewöhnen konnten.

Bewohner der Sperrzone mit Essensvorräten

Rüdiger Lubricht

Ein Bewohner hat Kürbisse als Wintervorrat gesammelt.

Ohne Fließwasser, auf sich selbst gestellt

Weil man aber niemandem zumuten kann, in der nach wie vor verstrahlten Region auf Dauer zu arbeiten, fehlt jegliche Infrastruktur wie Fließwasser oder Strom. Die Alten holen Wasser vom Brunnen und sitzen bei Petroleumlicht in ihren baufälligen Häuschen. Gegessen wird hauptsächlich, was der Wald hergibt, wie etwa Beeren, und Selbstangebautes. Immerhin gibt es seit einiger Zeit einen Lebensmittellieferanten, der regelmäßig Waren bringt.

Das Leben in der Sperrzone ist für sie ein einsames. Die Handvoll Leute, die dort ansässig sind, wohnen auf zahlreiche kleine Ortschaften verteilt. Manche von ihnen leben alleine in ihrer Gemeinde. Eigentlich ist der Aufenthalt im Gefahrengebiet verboten, aber die Behörden haben sich damit abgefunden. Offiziell dürfen Besucher nur am jährlichen Totengedenktag kommen, dann bekommen auch die Bewohner der Zone Besuch.

Plünderer, Jäger, Arbeiter

Aber es halten sich immer wieder auch Menschen, die nicht dort wohnen, temporär in der Zone auf. Von Anfang an waren Plünderer auf Schatzsuche. Heute finden Jagden in dem verwilderten Gebiet statt. Und so wie der Fotograf Rüdiger Lubricht nutzen auch andere Künstler die unwirkliche Gegend für ihre Projekte. Vor allem die wuchernde Natur, die die verlassenen Plattenbauten der Stadt Pripjat umrankt, und die beim überstürzten Aufbruch zurückgelassenen Alltagsgegenstände geben gute Motive ab.

Buchhinweis

Rüdiger Lubricht: Verlorene Orte. Gebrochene Biografien. IBB Dortmund, 120 Seiten, 32,90 Euro.

Auch für Lubricht - worum es ihm aber mit seinen Fotos vor allem geht, ist der Bruch, der die Katastrophe in Tschernobyl in der Biografie von Individuen bedeutet hat. Sein besonderes Augenmerk legt er damit auf jene, die damals zu Helden geworden sind und dabei halfen, das Ausmaß der Katastrophe nicht noch größer werden zu lassen. Sie waren, heißt es im Buch, ambivalente Helden ihrer Zeit - weil während der Sowjet-Ära die Katastrophe eigentlich gar nicht passiert sein durfte und somit auch keine Helden an sie erinnern sollten.

Kampf um Anerkennung

Diese „Liquidatoren“ genannten Personen berichten in Interviews über ihren Leidensweg - von einst bis jetzt. Viele ihrer Freunde von damals und einige ihrer Angehörigen sind an den Folgen des Unfalls verstorben.

Die kolportierten Totenzahlen reichen von weniger als zwei Dutzend bis zu 150.000 - je nachdem wen man fragt. Die überlebenden Betroffenen müssen immer wieder um ihre Anerkennung als Strahlenopfer und damit um Rechte wie frühere Pensionierung und die Übernahme aller Kosten für medizinische Behandlungen kämpfen - mit wechselndem Erfolg. Als Helden werden sie ohnehin nicht gefeiert.

In „Verlorene Orte“ werden neben Landschaftsbildern und Fotos von jenen, die in der Sperrzone leben, auch Porträts dieser Menschen gezeigt und ihre Geschichte in einem Begleittext erzählt. Die Tschernobyl-Bilder des Fotografen sind nicht nur in dem Band veröffentlicht. Das Internationale Bildungs- und Begegnungswerk (IBB), das in Dortmund beheimatet ist und sich in vielfältiger Weise in der Region rund um den Unglücksreaktor engagiert, kuratiert zusätzlich eine Wanderausstellung, die auch in Wien gezeigt werden wird.

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