Interview: Die Welt des Gerhard Roth
Die Sprache, das Schreiben und das Lesen sind für den österreichischen Schriftsteller Gerhard Roth „meine Nabelschnur zum Leben“. Nur durch sie lässt sich die Düsternis des Lebens erfassen. Roth im Gespräch über sein Leben und sein Werk.
ORF.at: Wie haben Sie als junger Mensch und Schriftsteller die zehn Jahre am Rechenzentrum Graz ausgehalten?
Gerhard Roth: Ich hatte eine Familie mit drei Kindern und hatte bereits im Alter von 21 Jahren geheiratet. Ich war es also der Familie schuldig, diese Arbeit anzunehmen. Außerdem habe ich dort auch großartige Erfahrungen gemacht. Ich lernte Programmieren und setzte mich intensiv mit der binären Logik, der Bool’schen Algebra auseinander und mit der Philosophie, die mit der Datenverarbeitung verbunden ist, der Kybernik.
Das war die Zeit, als die Datenverarbeitung in Österreich noch in den Kinderschuhen steckte. Wir hatten damals denselben Großrechner, der auch in Cape Canaveral stand. Die ersten vier, fünf Jahre war das für mich ein Abenteuer - so lange, bis der tägliche Trott eintrat. Ab diesem Zeitpunkt überlegte ich ständig, wann ich aufhören könnte.
ORF.at: Sie schreiben viel über das Lesen, das Flanieren, die Gespräche mit Freunden. Wie haben Sie das neben der Familie und dem Job in der Intensität betreiben können, die für das spätere Verfassen Ihrer Bücher vonnöten war?
Roth: Ich brauchte den Alltag - und gleichzeitig belastete er mich. Es war wichtig, dass die Kinder in die Schule gingen und ich mich mit ihren Problemen auseinandersetzte. Mit ihnen zu sprechen war meine Nabelschnur zum Leben.
Die ist mir bis heute geblieben – und das setzt sich bei den Enkelkindern fort. Sie halten mich sogar am Laufenden, was technische Geräte betrifft. Ich weiß jetzt auch, wie Kinder mit einem Nintendo spielen oder welche Möglichkeiten es beim Computerspielen gibt. Das verschafft mir das Gefühl, ich sei nicht aus der Zeit herausgefallen.
Wenn die Kinder zusammenkommen, spielen sie mit ihren Nintendos oder iPhones. Es nervt mich zwar, dass sie nicht miteinander reden und spielen, aber so scheint eben die Entwicklung zu laufen.
ORF.at: Sie schreiben in Ihren Büchern viel über scheinbare Normalität und Außenseitertum. Wenn man heute seinen Kindern das Nintendo-Spielen verbietet, fällt man aus dieser Normalität heraus.
Roth: Ich mische mich auch überhaupt nicht ein. Ich will begreifen, was sie machen. Dennoch habe ich den Eindruck, dass ein Teil des subjektiven Erlebens verloren geht. Die Kindheiten, so wie wir sie gehabt haben, mit allen ihren Problemen, verschwinden. Man geht jetzt schon mit drei Jahren „in die Hacke“, wie ich das nenne, wenn Kinder in den Kindergarten gehen müssen in aller Früh und dort abgestellt werden. Die haben dort eine Einheitserziehung - und am Abend, wenn sie nach Hause kommen, sind die Eltern schon erschöpft.
Am Wochenende brauchen die Eltern dann Zeit, um sich zu regenerieren, und machen oft nur aus schlechtem Gewissen mit den Kindern irgendetwas nebenher.
Genauso verschwindet das Alter aus der öffentlichen Wahrnehmung, weil alte Menschen in Heime kommen. Die Geisteskranken sind längst verschwunden, die sind alle schon in Heimen. Bettelverbote gibt es auch - weil man die Armut nicht mehr sehen soll. Der Tod wurde in den Spitälern zu etwas Anonymem. Früher war der Tod ein wichtiger Moment. Das heißt nicht, dass ich dem nachtrauere und jedem empfehlen will, sich Sterbende anzuschauen. Aber es ist damit ein weiteres Element verloren gegangen, das notwendig ist, um Empathie zu empfinden.
Die Kinder sehen die Alten nicht mehr älter werden. Das, was die Alten noch imstande wären, den Jungen zu geben, wird nicht mehr wahrgenommen. Für mich waren die Großeltern wichtiger als die Eltern. Meine Großeltern konnten wunderbar erzählen. Sie kamen aus einer ganz anderen Welt und hatten eine ganz andere Herkunft als ich. Sie übersetzten mir ihre Welt in meine Sprache.
ORF.at: Die Großmutter war auch die Erste, die Sie zum Schreiben ermutigt hat?
Roth: Ohne sie könnte ich meine Kindheit nachträglich nicht schön finden. Ich kann mir keine Biografie vorstellen, in der ich nur im Kindergarten gewesen wäre. Ich glaube, ich hätte dort versagt. Später in der Schule hatte ich große Schwierigkeiten - sie hätten wahrscheinlich im Kindergarten einfach noch früher angefangen.
Das Spielen geht auch verloren. Schon drei Stück Holz haben unsere Fantasie angeregt. Was länger war, war ein Gewehr, was breiter war, ein Schiff. Heute sind Spiele Zeittotschläger. Was gibt es zu entdecken? Wir sind auf den Friedhof gelaufen und haben plötzlich einen aufgebahrten Menschen gesehen. Damals hat man noch den Deckel bis zum Begräbnis weggenommen. Die alten Menschen sind im Wirtshaus herumgesessen, haben geschimpft und waren noch mit 80 betrunken und haben über ihre großen Abenteuer erzählt.
Auf jedes einzelne Element könnte ich zwar verzichten. Aber im Gesamten finde ich, dass das Leben heute steriler geworden ist.
ORF.at: Die Kinder erleben viel beim Computerspielen - aber alle dasselbe.
Roth: Wir haben auch alle die selben Märchen gehört. Diese Verbindungen gab es also schon damals. Aber heute sind die Kinder oft passiv. Sie bekommen bei ihren Computerspielen vorgefertigte Raster vorgesetzt. Wenn wir gespielt haben, haben wir auch Spiele erfunden. Wir haben genau so Fußball gespielt, wie wir es wollten. Es gab Fouls, und es gab Gefühle anderen Menschen gegenüber.
Ich würde dieses wohlbehütete, wunderbare Leben, das manche Kinder, denen es besser geht, heute haben, nicht gegen meine Kindheit neben dem Müllabladeplatz tauschen wollen. Da habe ich wenigstens den Eindruck: Ich habe zehn Jahre lang gelebt. Ich habe diese zehn Jahre übrigens fast vergessen, aber sie sind zurückgekehrt. Jetzt ist meine Kindheit ein wichtiger Baustein in meinem Leben.
ORF.at: Aber man musste auch viel aushalten in diesen Strukturen. Sie haben in „Orkus“ Ihre Schwiegermutter erwähnt, die wegen des Stromverbrauchs geschimpft hat, wenn Sie abends mit Licht gelesen und geschrieben haben. Ist das die Kehrseite?
Roth: Ja. Aber wir haben dadurch auch sehr früh kennengelernt, dass wir nicht in einer Glasglocke leben, sondern dass das Leben rundherum sehr hart ist. Das gehörte dazu. Wir wollten schon als Kinder immer in das Erwachsenenleben eindringen. Das Erwachsensein hatte einen Zauber für uns - auch wenn Erwachsene unverständliche Dinge getan haben. Das waren Einblicke für uns in eine andere Welt.
ORF.at: Warum haben Sie relativ bald Ihren Job aufgegeben und sich aufs Land zurückzogen, wo Sie ohne Fließwasser, WC und Telefon in einem Winzerhaus, also in einem kleinen Bauernhaus, lebten?
Roth: Aufs Land bin ich gezogen, weil das meine jetzige Frau Senta wollte. Ich lebte in Trennung von meiner Frau - aber nicht von den Kindern, die sind mir immer wichtig geblieben. Es gab Strindberg’’sche Momente. Zum Teil war mein Übersiedeln aufs Land auch eine Flucht. Ich habe vorher im Rechenzentrum Graz aufgehört und wollte irgendwo leben, wo ich sehr autonom sein konnte, wo es wenig Ablenkung und viel Ruhe gibt.
Aber da täuschte ich mich. Plötzlich begann mich das Leben auf dem Land und die Vergangenheit der Menschen dort so zu interessieren, dass sich das ganze Schreibprogramm wie von selbst umgestellt hat.
ORF.at: Brauchten Sie diesen radikalen Wechsel, um sich ganz auf das Schreiben konzentrieren zu können?
Roth: Das war ein Dammbruch.
ORF.at: Ein Initiationsritus?
Roth: Ich wollte mit Haut und Haar schreiben. Die Trennung von meiner Frau war sicher eine Belastung für meine Kinder, aber ich sage mir heute: Wenn ich meinen Beruf nicht ausüben hätte können, wäre ich später sicher eine noch größere Belastung für die Kinder geworden.
Ich hatte bis dahin „die autobiographie des albert einstein“, "Der Wille zur Krankheit, „How to Be a Detective“ und „Der Große Horizont“ sozusagen nebenher geschrieben, aber ich war von der Doppelbelastung erschöpft und unzufrieden. Erst nachdem ich aufs Land gezogen war, konnte ich die zwei großen Zyklen schreiben. Anfangs dachte ich, das werden nur zwei Bücher. Daraus sind dann aber 15 geworden.
ORF.at: Die Zyklen sind ein komplexes Referenzsystem. Das war von Anfang an durchgeplant?
Roth: Der erste Teil, „Die Archive des Schweigens“, war für zwei Bände konzipiert. Das dehnte sich dann immer weiter aus - aber ich ließ mich davon nicht irritieren. Es kam noch ein Buch dazu, dann das nächste. Ab dem vierten oder fünften Band war mir erst klar, was noch fehlte und was ich abschließen musste. Als der erste Teil fertig war, dachte ich zuerst gar nicht daran, wieder einen Zyklus zu schreiben.
Der zweite Zyklus hat sich dadurch ergeben, dass ich die Vorstellung hatte, ich könnte das Schicksal meiner Romanfigur Jenner, des Mörders, mit einem Buch besiegeln. Ich wusste aber nicht: Wie soll ich dieses oder jenes zusammenschließen? Ich zäumte dann das Pferd von hinten auf.
Zuerst schrieb ich für jede der einzelnen Figuren, die im neuen Zyklus vorkommen sollten, ein eigenes Buch. Erst ganz am Schluss im Band „Orkus“ sollten diese dann den Mörder Jenner vernichten.
ORF.at: Sowohl in „Orkus“ als auch im „Alphabet der Zeit“ beschäftigen Sie sich mit Ihrer Autobiografie, gehen dabei aber ganz unterschiedlich vor. Das „Alphabet der Zeit“, wo es um die Kindheit und Jugend geht, ist persönlicher, Sie sind näher an Ihrer Lebensgeschichte dran. In „Orkus“ geben Sie nicht mehr so viel von sich und Ihrer Umgebung preis.
Roth: Der Unterschied ist: „Orkus“ ist ein Selbstporträt, das „Alphabet der Zeit“ sind Erinnerungen. Das heißt, „Orkus“ ist eine Momentaufnahme der Innenwelt meines Kopfes. Man könnte es lesen wie ein Tagebuch ohne Datum. Einzelne Teile hängen assoziativ zusammen und drücken ungefähr aus, welche Gedanken mir durch den Kopf gegangen sind in der Zeit, als ich das Buch schrieb. Ich wollte den Kopf des Schriftstellers darstellen - als Gegenstück zum „Alphabet der Zeit“, das in einer klassischen Sprache eher äußere Prozesse beschreibt, wozu mich der herrliche Fellini-Film „Amarcord“ inspirierte.
„Orkus“ ist hingegen ein Freiflug. Da müssen verschiedenste heterogene Elemente zusammenspielen. Der Zufall muss ebenfalls passen, ähnlich wie bei der Improvisation im Jazz oder beim Malen. Der Schreibprozess ist also im Vordergrund gestanden.
ORF.at: Es ist viel vom Schriftstellersein die Rede, kaum aber von der Privatperson. Wollten Sie dadurch auch Ihr Umfeld schützen?
Roth: Bis zum 30. Lebensjahr hatte ich ein bewegtes Leben. Und ich wollte andere Menschen mit meinen Erinnerungen nicht verletzen. Ich hätte mich selbst nicht wohl dabei gefühlt, das alles aufzuschreiben. Außerdem ist das keine Herausforderung.
Das Nachdenken über das Schreiben hat mich so verschlungen - von den Van-Gogh-Briefen bis zu „Moby Dick“, also der Lektüre- und Schreibaspekt meines Lebens -, dass der persönliche Teil in den Hintergrund gerückt ist. Es war für mich aufregender, in die Schreibwelt einzudringen und mit allen Schriftstellern, auch jenen, die schon verstorben sind, über ihre Bücher in Kontakt zu treten; Gespräche im Kopf führen zu können und die Zeit zu überwinden. Das hat mich fasziniert - und das sollte auch im Buch zum Ausdruck kommen.
Das Spannendste für mich an „Orkus“ war jedoch das Zusammentreffen der imaginären Figuren meiner Bücher mit den realen Menschen meines Lebens. Wenn man 32 Jahre lang über dieselben Figuren nachdenkt, dann werden sie für einen selbst real. Ich kann nicht sagen, dass Jenner für mich heute noch eine reine Fantasiefigur ist. Ich kenne ihn einfach. Manche haben sogar eine bestimmte Kleidung an, wenn ich an sie denke. Jenner etwa trägt einen schwarzen Burberry, obwohl ich das nie beschrieben habe.
Ich habe mit den Figuren auch stumme Gespräche geführt im Alltag und ich habe damals nur wenig geträumt, weil ich so viele Geschichten im Kopf hatte. Jetzt träume ich viel mehr als während dieser 32 Jahre des Schreibens an den Zyklen.
Der geisteskranke Lindner ist zum Beispiel seit 32 Jahren in meinem Kopf. Der Mörder Jenner und der Arzt Ascher sind auch sehr früh entstanden. Das ist etwas anderes, als wenn man einen Roman von 220 Seiten schreibt - was natürlich auch seinen Reiz hat.
ORF.at: Sind in den unterschiedlichen Figuren jeweils verschiedene Aspekte Ihrer Persönlichkeit aufgehoben?
Roth: Kein Schriftsteller kann etwas schreiben, was er nicht in irgendeiner Weise in sich trägt. Fernando Pessoa hat in seinem Leben 25 Dichter in sich getragen, von denen er sieben oder acht eine eigene Biografie geschenkt, für die er Horoskope errechnet, für die er einen eigenen literarischen Ton gefunden hat. Das ist für mich der Paradefall eines Schriftstellers, der sich in seine verschiedensten Charaktere in seinem Kopf aufgespaltet hat. Jeder Schriftsteller schöpft aus sich selbst am meisten.
ORF.at: Ist das ein unbewusster Prozess oder Teil des Plans?
Roth: Teilweise ist es unbewusst. Aber natürlich wird man beim Schreiben immer mit sich selbst konfrontiert. Die Veranlagung zur Xenophobie ist in jedem Menschen vorhanden. Erst durch die Bewusstmachung kann man anfangen, das zu beherrschen. Wenn man das abstreitet und sich nicht damit auseinandersetzt, läuft man Gefahr, dass diese Eigenschaften in einem stärker werden.
Es gibt viele Menschen, die sagen: „Sie wissen, ich bin kein Nazi, aber ...“ - und dann etwas sagen, das die Nazis gesagt haben oder gesagt haben könnten. Ähnlich ist das mit der Fremdenfeindlichkeit. Sei misstrauisch dir selbst gegenüber, dann wirst du merken, wie gefährlich deine Gedanken sind.
ORF.at: Sie bewegen sich in Ihren Romanen ganz stark in Referenzsystemen; in der Literatur, in der Geschichte. Sie spielen dann kreativ damit. Ist das Konzeptuelle der Zyklen und dieses Bewegen in Referenzsystemen auch ein Versuch, das Archaische in sich selbst während des Schreibens im Zaum zu halten?
Roth: Zuallererst im Denken. Aber es ist gleichzeitig ein Abenteuer, auf das man sich einlässt. Zu den psychologischen Aspekten kommt die Kraft der Sprache. Es ist wichtig, einen Stil, eine Sprache zu finden - und sich von der Sprache dann leiten zu lassen. Alleine das Formulieren kann einen selbst verändern. Das ist wie ein Stempel, den man in seinen Kopf hineindrückt. Die Sprache treibt oft die Psychologie in fremde Gefilde oder vernichtet sie sogar. Man will dann nicht mehr psychologisch schreiben, sondern sich von den Worten, der Sprache führen lassen.
Es geht um die Mächtigkeit der Sprache, der man sich abwechselnd unterwirft und die man bezwingen kann. Zuerst reizt man die Sprache, dann vertraut man sich ihr an; dieser Tausendfüßler, der mit seinen tausend Worten Sätze hervorzaubert - der ist der zweite große Antrieb. Es geht nicht nur um die Selbsterforschung, es geht mindestens im gleichen Maße um die Mächtigkeit der Sprache.
Es ist ein großartiger Zauber, wenn man beim Schreiben in den Magnetismus der Wörter gelangt, vor allem bei Lyrik.
ORF.at: Ist das Schreiben ein Rauschzustand? Rauschzustände spielen in Ihren Texten ja eine große Rolle.
Roth: Das wechselt sich ab. Es gibt auch „Bastelmomente“, in denen man mit den eigenen Sätzen wie mit einer Collage arbeitet. Manche Schreibmomente empfindet man als großartig - und es ist, wenn man es am nächsten Tag liest, nichts dabei herausgekommen. Zuerst hatte man einen „Rauschzustand“, dann ist man enttäuscht. Es gibt auch das mühsame Schreiben, bei dem man Qual empfindet. Man setzt sich trotzdem hin, wenn man das Gefühl hat, das könnte etwas werden.
Für den Schriftsteller ist das Auflösen der Zeit das Entscheidende. Er muss sich aus der aufgenötigten Zeit heraussprengen. Der Schreibprozess selbst ist das Verlassen der Zeit. Nach ein paar Stunden des Schreibens weiß man nicht, wie lange man dagesessen ist. Außer man muss korrigieren und quält sich dabei. Aber der Schöpfungsprozess bei der ersten Fassung - der ist das Anziehende, die höchste Belohnung, die man bekommen kann.
Später kommen vielleicht Preise, die man sich wünscht. Aber letztendlich bedeutet das nichts im Vergleich zum Moment der Arbeit.
ORF.at: Dieser Zustand, nehme ich an, ist ein einsamer. Sie schreiben in „Orkus“, dass Künstlerfreundschaften „Schlangengruben“ sind. Was passiert, wenn zwei solche einsamen Künstlerindividuen zusammenstoßen?
Roth: Zunächst ist diese Einsamkeit für die mitlebenden Menschen spürbar. Man braucht für das Schreiben sicher einen starken Partner, der sich auch selbst organisieren und der seine eigenen Wünsche in irgendeiner Weise realisieren kann. Es wechseln sich Perioden, in denen man sehr viel spricht, mit Perioden, in denen man gar nicht spricht, ab.
Es gibt Perioden, in denen man trinkt, isst, Freunde braucht. Dann kommen wieder Perioden, in denen man niemanden sehen mag. Es ist kein beamtisches Dasein. Es braucht einen Partner, der improvisieren kann und dieses Improvisieren als das eigentliche Leben empfindet und nicht den geregelten Alltag.
Was die Künstler betrifft, die sind sicher keine besseren Menschen als andere - im Gegenteil: oft eifersüchtig, unzufrieden, unglücklich, geltungsbedürftig. Künstlerfreundschaften kommen zumeist leidenschaftlich zustande. Man versteht sich gut, es gibt einen intensiven, oft jahrelangen Austausch.
Dann wird der Austausch weniger, weil man genau weiß, wie der andere denkt und wie man selbst ist. Dann kommt ein Stadium, in dem man spürt, dass der eine den anderen in irgendeiner Weise unterdrückt, weil er sein Ich stärker ausleben will, als der andere es zulässt.
Einer muss sich anpassen, einer muss nachgeben. Einer wird erfolgreicher, einer weniger. Der eine lebt frei, wie er es gerade für richtig hält, der andere nimmt Rücksicht auf Dinge. Und das passt dann plötzlich nicht mehr zusammen. Dann geht die Freundschaft auseinander.
Die Künstler wetzen schon sehr oft gegenseitig das Messer. Darunter verstehe ich das, was ich Schlangengrube nenne. Es gibt auch wunderbare Freundschaften. Sie zu finden ist unter Künstlern aber schwieriger und seltener.
ORF.at: Sie erwähnen in „Orkus“ Wolfgang Bauer. Der muss eine ungeheure Naturgewalt gewesen sein. Sie beschreiben, leider sehr kurz, Ihre Reise mit ihm durch die USA. Haben Sie da noch eine Anekdote auf Lager?
Roth: Wolfgang Bauer war für mich eine Art Buddhist. Er war meditativ, er hat sehr viele mystische Gedanken gehabt. Er hat auch in kritischen Situationen eine Neugier und gleichzeitig Ruhe an den Tag gelegt, die erstaunlich waren. Gleichzeitig verspürte er einen explosiven Lebensdrang, dem er zuletzt auch zum Opfer gefallen ist.
Anekdoten gäbe es viele. In Las Vegas zum Beispiel sind wir in ein Casino namens „Silver Slipper“ gegangen. Wolfgang hatte im Flugzeug verschiedene Zahlen im Kopf: das Abfluggate, das Landegate, die Taxinummer. Dann hat er angefangen, diese Zahlen im Casino zu setzen. Zunächst hatte er einen riesigen Lauf. Nach eineinhalb Stunden wurde der Tisch geschlossen und ein Tuch über ihn gelegt. Der Croupier ist weggegangen. An einem anderen Tisch sind dann bald zwei, drei Reihen Leute hinter uns gestanden, die angefangen haben, mit Wolfgang mitzusetzen.
Ich habe wie immer etwas in meinem Notizbuch aufgezeichnet. Dadurch hatte die Casinocrew den Eindruck, wir seien Systemspieler - ich schreibe, und er spielt. Tatsächlich habe ich nur das Rundherum aufgeschrieben.
Wolfgang wollte aber in ein noch größeres Casino gehen. Wir fanden uns daher im „Circus Circus“ wieder, der unter anderen Frank Sinatra und seinen Leuten gehörte. Von der ersten Minute an zerrann sein Gewinn wie der Sand in einer Sanduhr. Das war nicht anzuschauen. Ich stand auf und sagte: „Ich gehe jetzt. Hör auf, das bringt nichts!“ Er aber hat begeistert weitergespielt und konnte nicht mehr aufhören. Er sagte fast flehentlich zu mir: „Ich habe zu Hause noch Reservegeld, wenn ich es verlange, gib es mir nicht, egal was passiert.“
Gegen zwei Uhr früh kam er und forderte das Geld. Eine Viertelstunde lang hielt ich mich an unsere Abmachung, und wir debattierten heftig. Wolfgang wurde immer leidenschaftlicher. Schließlich gab ich es ihm.
Am nächsten Morgen war er um acht Uhr noch nicht da; um neun Uhr auch nicht; um zehn Uhr auch nicht. Gegen Mittag ging unsere Maschine nach New York. Kurz nach zehn Uhr kam er erschöpft - er sah furchtbar aus, zerfranst - zu unserer Pension zurück mit den Worten: „Ich bin glücklich.“ Ich fragte: „Warum?“ Darauf er: „Ich habe alles verloren.“ Er hat dann erzählt, dass alles schiefgegangen sei, dass man ihn aber ein Stockwerk höher gebeten habe und ihn dort mit einer Dame zusammenbrachte. Champagner gab es auch.
Er hatte sein gesamtes Kapital plus den Gewinn verspielt. Wolfgang aber war so erschöpft, dass er die angebotenen Dienste nicht in Anspruch nehmen konnte. Er hat nur einen kleinen Imbiss eingenommen und wollte zu Fuß nach Hause gehen.
Unterwegs ist er in einen offenbar von den Casinos finanzierten Schuppen hineingestolpert, in dem man für einen Dollar alles trinken und für einen weiteren alles essen durfte. Das war eine Umgebung, die ihn interessierte, es waren lauter Spieler da, die schwer verloren hatten. Im Lokal wurden die Dollars, die man bezahlen musste, sogar ausgeteilt - das heißt, alles war gratis. Man wollte damit den glücklosen Spielern einen schönen Abgang bieten. Die Besucher konnten Whiskey trinken und Brötchen essen. Jeder konnte so lange bleiben, wie er wollte. Vor dem Ausgang warteten Taxis. Für die Spieler, die pleite waren, wurde vom Lokal sogar noch das Taxigeld bezahlt, sagte Wolfgang. Bis zehn Uhr ist er dort geblieben. Die Geschichte von dem Ein-Dollar-Lokal hat er später gut hundertmal erzählt.
ORF.at: Wer auch immer wieder vorkommt bei Ihnen, ist Thomas Bernhard. Bei ihm wie bei Ihnen ist das ganz große Thema das Verdrängen der Verbrechen des Nationalsozialismus. Welche Verbrechen geschehen heute, die wir verdrängen und die spätere Generationen belasten werden?
Roth: Ich glaube, dass unsere Lebenssysteme falsch sind. Radioaktiv ist ja nicht nur ein leckes Atomkraftwerk - sondern auch der Finanzmarkt. Der verseucht die ganze Menschheit. Kaum ist irgendwo ein Unglück passiert, steigen und fallen sofort die Aktien.
Die Zusammenhänge, die da entstanden sind, diese casinoartigen Formen des Gelderwerbes, für die es plötzlich statistische Kurven im Fernsehen gibt, damit man sieht, wie es mit einer Aktie bergauf und bergab geht, sind zerstörerisch. Es wird quasi eine Wissenschaft daraus gemacht, anstatt zuzugeben: „Das ist Glücksspiel.“
Das Zweite ist die Sterilität des Lebens, auf die wir zusteuern, das Dritte die rücksichtslose Ausbeutung der Erde. Die Erde ist ein Organismus, wird aber wie tote Materie behandelt. Sie hat eine bestimmte Lebensdauer. Durch Raubbau kann sie schneller vernichtet werden und mit ihr die Bewohner, die auf ihr leben.
Das ist wahrscheinlich das größte Tabu, das es momentan gibt. In meiner Kindheit wurde der Nationalsozialismus verdrängt. In meiner Kindheit wurde die Sexualität verdrängt. Heute wird die Vernichtung der Erde verdrängt.
Es muss ein fundamentales Umdenken stattfinden.
Fast jeden Morgen schaue ich arte, 3sat, Euronews oder CNN an. Man sieht dort, dass ein Großteil der Menschheit ganz anders lebt als wir hier in Europa oder in den USA. Die Menschen der Dritten Welt leben wesentlich ärmer, wesentlich bescheidener, wesentlich kürzer.
Ich glaube, dass die kommenden Generationen unsere jetzige Generation als rücksichtslos in Erinnerung behalten werden, die alles für sich haben und benutzen wollte. Stellen Sie sich vor, wir würden jetzt im Pompeiji auf irgendeinen Schacht stoßen, und man würde wissen, vor 24.000 Jahren habe man hier Plutoniumstäbe vergraben - und wir dürften uns deshalb nicht nähern.
Einer von Andrej Tarkowskijs Filmen heißt „Stalker“, ein anderer „Opfer“. Bei „Stalker“ habe ich die tiefere Bedeutung erst später begriffen, denn die Katastrophe in Tschernobyl ereignete sich erst danach. Es geht um eine verbotene Zone, in die jemand eintritt. Wenn man aber einen bestimmten Weg geht, trifft man auf Relikte der Zivilisation wie Münzen und Abziehbilder von Leonardo-da-Vinci-Gemälden. Rundherum wuchert Unkraut und undurchdringliches Gestrüpp. Das ist wie ein böser Traum.
Und im anderen Film, „Opfer“, geht es tatsächlich um eine Atomkatastrophe. Man sieht die Katastrophe nicht, man weiß nicht genau, was vorgefallen ist. Man merkt nur: Alle sind plötzlich in Lebensgefahr. Tarkowskijs Filme sind großartige Kunstwerke. Sie haben uns schon damals die Augen geöffnet, dass wir so leben, als ob nach uns nichts mehr kommt.
ORF.at: Cormac McCarthy ...
Roth: ... „Die Straße“. Ein wunderbares Buch. Ich lese es jetzt zum zweiten Mal. Wie der Vater mit dem Sohn durch die vernichtete Landschaft geht. Das ist dem Tarkowskij verwandt. Das hat mir auch einen riesigen Eindruck gemacht. Haben Sie den Film „Die Straße“ gesehen - wie ist der?
ORF.at: Gegenüber dem Buch ein hollywoodesquer Endzeitkitsch.
Roth: Das Buch ist eines von jenen, die einen sprichwörtlich bis in die Träume verfolgen. Das ist grandiose, visionäre Literatur. Ich will jetzt nicht mit apokalyptischen Vorstellungen kommen, aber dass die Menschen das Ruder herumreißen müssen, das steht fest. Es hilft uns nicht, Atomunfälle zu bagatellisieren, indem wir sagen, das kommt nur alle 25 Jahre vor.
Der Abschied von der Atomkraft geht nicht von heute auf morgen, sonst kann sich niemand mehr Energie leisten. Aber der Verzicht muss das Ziel ein.
ORF.at: Entsteht dadurch ein neues Projekt der Aufklärung?
Roth: Ich denke, aus reiner Notwehr werden sich viele Menschen früher oder später gezwungen sehen, das Ruder herumzureißen. Ich bin dem gemeinsamen Europa in fast schon irrationaler Liebe verbunden. Dennoch oder gerade deshalb bin ich über die praktisch ungeregelten Märkte empört. Selbstverständlich müssen Regierungen diese Entwicklung eindämmen und strengere Spielregeln einführen.
Ich weiß aber nicht, ob die Staaten dem System nicht bereits so ausgeliefert sind, dass es gar kein Zurück mehr gibt. Diese ganzen künstlichen Stützen und Schutzschirme sind Notwehrreaktionen. Wir bauen für das radioaktive Geld bereits den radioaktiven Bunker. In den kommt das Geld hinein, im Notfall können wir das Geld dann aufessen. Im Augenblick richtig gehandelt - im Gesamten absurd.
ORF.at: In der Vergangenheit war eine der Fluchtfantasien vor solcherlei Unbill der Welt die Südsee. Genau das wurde ihr zum Verhängnis.
Roth: Ich glaube nicht, dass uns Paradiesvorstellungen noch weiterhelfen können. Die haben sich als negativ erwiesen.
ORF.at: Gibt es überhaupt noch welche?
Roth: Den Alltag. Der ist im Biedermeier zu hoch zelebriert worden, in der sogenannten Bürgerkultur. Es geht darum, dass wir nur einmal leben. Jeder müsste die Chance auf ein würdiges Leben bekommen.
Wenn das das neue Bewusstsein würde, dass wir nur einmal leben und daher gut miteinander umgehen und die Probleme für die Zukunft gemeinsam klären müssen, dann könnte sich ganz allmählich eine andere Daseinsform entwickeln.
ORF.at: In Ihren Büchern spielt auch das Sichverabschieden in den Wahn eine große Rolle. Es ist die Rede von der Unmittelbarkeit und Wahrhaftigkeit des schöpferischen Prozesses im Wahn. Läuft man da nicht Gefahr, psychisch Kranke zu den „Edlen Wilden“ der heutigen Zeit zu stilisieren?
Roth: Kann sein. Auf der anderen Seiten besteht eine unleugbare Verwandtschaft zwischen Geisteskranken und Künstlern, weil bei beiden das Unterbewusstsein so eine große Rolle spielt. Der Künstler versucht mit allen Mitteln, sein Unbewusstes in seine Arbeit zu integrieren.
Das heißt, dass beim Geisteskranken das Unbewusste das Bewusstsein überschwemmt und dem Bewusstsein das Verhalten diktiert, während beim Künstler das Bewusstsein das Unbewusste für seine Arbeit verwendet. Dann muss es zurück - wie der Geist aus der Flasche.
ORF.at: Sie setzten sich in Ihren Büchern schon lange und intensiv mit psychisch Kranken auseinander. Sie sprechen viele Themen ohne Umschweife an. Teilweise bewegen Sie sich weit von dem weg, was noch als politisch korrekt gilt. Sie verwenden Worte wie „Schwachsinniger“. Im handschriftlichen Plan zum „Orkus“-Zyklus wird der schizophrene Lindner sogar als „Idiot“ bezeichnet. Haben Sie keine Angst vor einem Sturm der Empörung?
Roth: Ich finde, dass Leute, die alles politisch korrekt ausdrücken wollen, die Sprache zerstören. Die Sprache, die ein Künstler verwendet, ist nicht politisch korrekt. Es steht dem Künstler nur eine einzige Sprache zur Verfügung – die er benötigt, um sich auszudrücken.
Eine Zeit lang war es total verboten, über Sexualität zu schreiben und Umgangssprache in der Sexualitätsbeschreibung zu verwenden. Eines Tages läutete der Schriftsteller und Literaturwissenschaftler W. G. Sebald an meiner Wohnungstür, der mein Buch „Winterreise“ kritisiert hatte, weil darin in seinen Augen zu drastische Darstellungen von Sexualität enthalten sind. Er sagte: „Ich habe das und das über Sie geschrieben und möchte mit Ihnen sprechen.“
Ich bin dann mit ihm in das Lokal „Dubrovnik“ gegangen. Wir haben dort diese Worte, die im Roman vorkommen und als schmutzig gelten, laut ausgesprochen, die Geschlechtsteile und alles, mit drastischen Ausdrücken. Ich habe immer gesagt: „Man kann Sexualität nicht mit lateinischen Vokabeln beschreiben. Man kann sie nicht durch drei Punkte darstellen ...“, und habe Vorschläge gemacht. Daraufhin hat er andere Ausdrücke laut vorgeschlagen. Plötzlich haben wir bemerkt, dass es im Lokal ganz still geworden war, und uns alle angeschaut haben.
Ich kann in mein Buch nicht „SchülerInnen“ schreiben. "Als die SchülerInnen aus der Schule hinausliefen.“ Ich kann nicht alles, was politisch korrekt ist, auch in einem Buch unterbringen und muss gegen den Code verstoßen, wenn es mir stilistisch notwendig erscheint.
Ich weiß das auch, wenn ich das Wort „Idiot“ schreibe. Ich gehe andererseits schon seit 38 Jahren zu den Gugginger Künstlern. Alle dort kennen mich. Ich beschäftige mich mit ihnen. Daher nehme ich es mir auch ohne schlechtes Gewissen heraus, „Idiot“ zu schreiben, wenn ich es für künstlerisch notwendig erachte.
ORF.at: Sie haben die Frauen angesprochen. Die sind im „Orkus“-Zyklus nicht sonderlich stark repräsentiert. Warum?
Roth: Ich beschreibe eine patriarchalische Welt. Die entscheidende Geschichte von der Monarchie bis zum Beginn der Zweiten Republik in Österreich und danach 20, 30 lang, ist eine patriarchalische Geschichte. Man braucht sich nur die Kaiser anzusehen - mit Maria Theresia als Ausnahme. Ähnlich in Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Russland. Im Wesentlichen bewegten wir uns in einer männlichen Welt; einer Welt von Adeligen, Politikern und Soldaten.
Das heißt nicht, dass die Männerwelt die böse und die Frauenwelt die gute ist, sondern nur, dass diese Gesellschaft aus dem Patriarchat entstanden ist, mit all seinen Autoritätspyramiden.
In der Monarchie standen die Kaiser an der Spitze, es folgten die Erzherzöge, die Herzöge und so weiter, das ging hinunter bis zu den Leibeigenen. Die zweite Machtpyramide war die katholische Kirche mit dem Papst, den Kardinälen und den Bischöfen, hinunter bis zum Mesner. Die dritte Pyramide gab es innerhalb der Beamtenschaft, in Österreich vom Sektionschef bis zum Schreiber. Dann gab es die Autoritätspyramide des Militärs und nicht zuletzt jene der Familie. Sagen Sie mir, wo da die Frauen waren?
Man könnte schon sagen: „Schreib eine Geschichte aus der Frauenperspektive.“ Aber, ehrlich gesagt: Das habe ich nicht zusammengebracht. Ich hätte nicht gewusst, wo ich da ansetzen soll. Das ist ein unendlich weites Feld.
ORF.at: Weil Sie vorhin die Sexualität erwähnt haben - die spielt im „Orkus“-Zyklus eine untergeordnete Rolle. Da gibt es ganz viel Thanatos und ganz wenig Eros.
Roth: Vielleicht habe ich mir nach der „Winterreise“ gedacht: So, jetzt habe ich genug geschrieben über das Thema. Da haben sich so viele aufgeregt, dass das nur die männliche Perspektive ist. Gut, ich bin ein Mann, und meine Fantasie hat halt diese Möglichkeiten. Aber damit stehe ich nicht alleine da. Bei Kafka spielen die Frauen auch keine riesige Rolle, um ein Beispiel zu nennen.
ORF.at: In „Orkus“ steht der Satz: Liebe ist eine Chimäre. Ist das eine Überzeugung von Ihnen?
Roth: Ja. Der Hass kommt immer automatisch. Wir brauchen ja nur den Umgang mit Flüchtlingen und Migranten anzuschauen, mit all der Xenophobie. Wie schwer es die Liebe da hat. Die Liebe ist eine philosophische Lebensentscheidung. Die wenigsten Menschen sind von sich aus liebevoll.
ORF.at: Liebe ist das individuellere Gefühl - Hass ist verallgemeinerbar?
Roth: Hass ist eine Natureigenschaft. Die Liebe ist - abgesehen von der Sexualität, die oft eine Mischung aus Liebe und Hass ist - eine Lebensentscheidung.
ORF.at: Die Bereitschaft zum kollektiven Hass - die ist etwas, wovon die Nationalsozialisten gelebt haben.
Roth: Das Unbewusste enthält sehr viel von diesen Hassgefühlen. Das ist genau beschrieben in dem Gespräch in „Orkus“, das Thomas Bernhard mit dem Korrespondenten der „FAZ“ führt. Bernhard sagt zu Rasumowsky, dass die Leute durch den Hass vereint sind gegen diejenigen, die eine Karriere gemacht haben. Ich glaube, dass die Liebe bei den Menschen aus sentimentalen Gründen übertrieben stark im Bewusstsein vorhanden ist.
Wo ist die große Liebe im Zusammenleben? Dann staunt man oft, was alles ohne Liebe funktioniert.
Egal wo ich hingekommen bin, ich habe nie bemerkt, dass die Christen die besseren Menschen sind. Natürlich gibt es auch Pfarrer, die sich persönlich, etwa für Flüchtlinge, engagieren. Das kann man der Kirche nicht absprechen. Aber die Missbrauchsfälle in der Kirche sprechen nicht gerade die Sprache der Liebe.
ORF.at: Der Mensch zieht eine Uniform an und wird zum Mörder, schreiben Sie in „Orkus“. Haben Sie in den Hunderttausenden Seiten, die Sie gelesen haben, oder in den Tausenden Seiten, die Sie selbst geschrieben haben, eine Erklärung dafür gefunden?
Roth: Die sehr simple Erklärung ist, dass, wenn einer die Uniform angezogen hat, er den Befehlen gehorcht. Immer wieder sagen dann die Leute: „Ich habe das tun müssen.“ Und wenn alle etwas tun, muss es in Ordnung sein. Wenn alle etwas Falsches tun, wird das Falsche erst recht wieder richtig.
Es gibt am Land einen Brauch, wenn ein Tier geschlachtet wurde. Da setzen sich der Besitzer des Tieres und alle, die an der Schlachtung beteiligt waren, zusammen und essen gemeinsam die frische Leber. Mit einem Brot wird der Saft aufgetunkt. Da habe ich jedes Mal das Gefühl, dass wir, alle Schuldigen, zusammensitzen, und das tote Tier essen.
Jeder kann sich dadurch, dass er einen Bissen nimmt, nicht über den anderen erheben. Das ist etwas ganz Archaisches. So ein Mahl ist außerdem von Ernst getragen, gemeinsam sitzen alle etwas müde von der Arbeit und Anstrengung beisammen und trinken sehr bedächtig ein Glas.
ORF.at: Das hat aber weniger mit Verdrängung zu tun, als wenn man sich das in Plastik abgepackte Fleisch aus Massentierhaltung im Supermarkt kauft.
Roth: Die Menschen kaufen und essen das nicht mehr als Tier. Darauf wollte Hermann Nitsch auch in seiner Kunst den Konsumenten zurückführen: dass jedes Stück Fleisch mit dem Tod des Tieres verbunden ist.
ORF.at: Eine Frage, die ich auch Karl-Markus Gauß gestellt habe und die sich mir auch bei Ihnen aufdrängt - Sie machen ja viele Notizen im Alltag, bei Ihrer Lektüre und bei Gesprächen, Sie fotografieren viel. Haben Sie noch nie daran gedacht, ein Blog zu schreiben, in dem Sie laufend publizieren?
Roth: Das ist meine Dunkelkammer, mein Bereich, den ich nicht gerne teile.
ORF.at: Das permanente Bedürfnis, sich mitzuteilen, wie zum Beispiel Karl Kraus mit der „Fackel“, das haben Sie nicht? Würde es Sie nicht reizen, sich regelmäßig auch politisch äußern zu können?
Roth: Wenn jemand ein guter Künstler ist, ist es relativ egal, welche Methoden er anwendet. Man kann nicht sagen, jemand, der keine Notizen macht oder Fotografien verwendet, ist deshalb ein schlechterer Künstler. Jemand, der politischer Künstler ist, ist nicht besser als jemand, der komplett apolitisch ist. Es ist im Prinzip völlig egal, wie und mit welcher Methode ein Künstler arbeitet.
Es ist auch sinnlos, einem Künstler irgendetwas vorzuhalten. Jeder kann es nur so, wie er es macht. Die anderen Künstler, die ihn kritisieren, nehmen ihre eigene Erfahrung als die einzig gültige an und betrachten aus dieser Perspektive den anderen. Das besagt überhaupt nichts.
ORF.at: Hat man nicht trotzdem manchmal Lust, etwas ganz anderes zu tun? Sie nehmen ja das Schreiben sehr ernst. Sie mögen Rock ’n’ Roll und James Dean. Möchten Sie nicht auch in der Literatur den Schritt von der Zwölftonmusik zum Rock ’n’ Roll wagen und etwas Flockig-Lockeres schreiben? Ein Bukowski-artiges Buch über das Saufen mit Wolfgang Bauer vielleicht?
Roth: Genauso gut könnten Sie mir die Frage stellen, ob ich Lust hätte, einmal ganz anders auszusehen und ein gänzlich anderes Gesicht zu haben. Ich bin so geboren, wie ich bin. Ich habe diese Augen, ich habe diese Ohren, ich habe diese Hände, ich habe diesen daktyloskopischen Fingerabdruck. Auch von einem Künstler kann man nur verlangen, dass er seinen Fingerabdruck sichtbar macht, anhand dessen er identifiziert werden kann.
Ich gehe gerne auf den Fußballplatz. Ich höre gerne Rock ’n’ Roll, ich lese auch gerne Schriftsteller, die ganz anders arbeiten als ich. Aber ich kann nur so schreiben, wie ich schreibe.
ORF.at: Sie verlangen sich selbst viel ab mit all Ihren Recherchen.
Roth: Ich liebe mein Material. Mich treiben die Neugier und das Interesse an. Es geht mir darum, durch die Intensität der Beobachtung und des Stils etwas Neues zu schaffen. Das ist die Kunst.
ORF.at: Ist es das, was Sie im „Orkus“ als „Kern der Wahrheit“ bezeichnen?
Roth: Es ist ein Teil davon. Der Kern der Wahrheit ist vielleicht nie ganz zu erreichen.
ORF.at: Wäre das das unerreichbare Ziel eines Schriftstellers? Diesen Kern der Wahrheit zu erreichen?
Roth: Ja. Das ist ein Grund für den „Don-Juanismus“ von Schriftstellern, dass sie das nächste Buch schreiben müssen und plötzlich nicht mehr wichtig ist, was sie hinter sich lassen, sondern nur, was vor ihnen liegt.
ORF.at: Wie schreiten Sie voran? Wissen Sie schon, was Sie als Nächstes machen? Sind Sie schon an etwas dran?
Roth: Ja. Es geht um den Verlust der Sprache, um die Verarmung der Sprache. Mehr möchte ich darüber nicht sagen.
Das Gespräch führte Simon Hadler, ORF.at