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„Ein Stempel, den man in seinen Kopf hineindrückt“

Literatur als Sucht, Konsument und Dealer in einem: Gerhard Roth im Interview mit ORF.at über das Lesen und Schreiben als einzig denkbare Lebensform.

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ORF.at: Sowohl in „Orkus“ als auch im „Alphabet der Zeit“ beschäftigen Sie sich mit Ihrer Autobiografie, gehen dabei aber ganz unterschiedlich vor. Das „Alphabet der Zeit“, wo es um die Kindheit und Jugend geht, ist persönlicher, Sie sind näher an Ihrer Lebensgeschichte dran. In „Orkus“ geben Sie nicht mehr so viel von sich und Ihrer Umgebung preis.

Roth: Der Unterschied ist: „Orkus“ ist ein Selbstporträt, das „Alphabet der Zeit“ sind Erinnerungen. Das heißt, „Orkus“ ist eine Momentaufnahme der Innenwelt meines Kopfes. Man könnte es lesen wie ein Tagebuch ohne Datum. Einzelne Teile hängen assoziativ zusammen und drücken ungefähr aus, welche Gedanken mir durch den Kopf gegangen sind in der Zeit, als ich das Buch schrieb. Ich wollte den Kopf des Schriftstellers darstellen - als Gegenstück zum „Alphabet der Zeit“, das in einer klassischen Sprache eher äußere Prozesse beschreibt, wozu mich der herrliche Fellini-Film „Amarcord“ inspirierte.

„Orkus“ ist hingegen ein Freiflug. Da müssen verschiedenste heterogene Elemente zusammenspielen. Der Zufall muss ebenfalls passen, ähnlich wie bei der Improvisation im Jazz oder beim Malen. Der Schreibprozess ist also im Vordergrund gestanden.

ORF.at: Es ist viel vom Schriftstellersein die Rede, kaum aber von der Privatperson. Wollten Sie dadurch auch Ihr Umfeld schützen?

Roth: Bis zum 30. Lebensjahr hatte ich ein bewegtes Leben. Und ich wollte andere Menschen mit meinen Erinnerungen nicht verletzen. Ich hätte mich selbst nicht wohl dabei gefühlt, das alles aufzuschreiben. Außerdem ist das keine Herausforderung.

Das Nachdenken über das Schreiben hat mich so verschlungen - von den Van-Gogh-Briefen bis zu „Moby Dick“, also der Lektüre- und Schreibaspekt meines Lebens -, dass der persönliche Teil in den Hintergrund gerückt ist. Es war für mich aufregender, in die Schreibwelt einzudringen und mit allen Schriftstellern, auch jenen, die schon verstorben sind, über ihre Bücher in Kontakt zu treten; Gespräche im Kopf führen zu können und die Zeit zu überwinden. Das hat mich fasziniert - und das sollte auch im Buch zum Ausdruck kommen.

Das Spannendste für mich an „Orkus“ war jedoch das Zusammentreffen der imaginären Figuren meiner Bücher mit den realen Menschen meines Lebens. Wenn man 32 Jahre lang über dieselben Figuren nachdenkt, dann werden sie für einen selbst real. Ich kann nicht sagen, dass Jenner für mich heute noch eine reine Fantasiefigur ist. Ich kenne ihn einfach. Manche haben sogar eine bestimmte Kleidung an, wenn ich an sie denke. Jenner etwa trägt einen schwarzen Burberry, obwohl ich das nie beschrieben habe.

Ich habe mit den Figuren auch stumme Gespräche geführt im Alltag und ich habe damals nur wenig geträumt, weil ich so viele Geschichten im Kopf hatte. Jetzt träume ich viel mehr als während dieser 32 Jahre des Schreibens an den Zyklen.

Der geisteskranke Lindner ist zum Beispiel seit 32 Jahren in meinem Kopf. Der Mörder Jenner und der Arzt Ascher sind auch sehr früh entstanden. Das ist etwas anderes, als wenn man einen Roman von 220 Seiten schreibt - was natürlich auch seinen Reiz hat.

ORF.at: Sind in den unterschiedlichen Figuren jeweils verschiedene Aspekte Ihrer Persönlichkeit aufgehoben?

Roth: Kein Schriftsteller kann etwas schreiben, was er nicht in irgendeiner Weise in sich trägt. Fernando Pessoa hat in seinem Leben 25 Dichter in sich getragen, von denen er sieben oder acht eine eigene Biografie geschenkt, für die er Horoskope errechnet, für die er einen eigenen literarischen Ton gefunden hat. Das ist für mich der Paradefall eines Schriftstellers, der sich in seine verschiedensten Charaktere in seinem Kopf aufgespaltet hat. Jeder Schriftsteller schöpft aus sich selbst am meisten.

ORF.at: Ist das ein unbewusster Prozess oder Teil des Plans?

Roth: Teilweise ist es unbewusst. Aber natürlich wird man beim Schreiben immer mit sich selbst konfrontiert. Die Veranlagung zur Xenophobie ist in jedem Menschen vorhanden. Erst durch die Bewusstmachung kann man anfangen, das zu beherrschen. Wenn man das abstreitet und sich nicht damit auseinandersetzt, läuft man Gefahr, dass diese Eigenschaften in einem stärker werden.

Es gibt viele Menschen, die sagen: „Sie wissen, ich bin kein Nazi, aber ...“ - und dann etwas sagen, das die Nazis gesagt haben oder gesagt haben könnten. Ähnlich ist das mit der Fremdenfeindlichkeit. Sei misstrauisch dir selbst gegenüber, dann wirst du merken, wie gefährlich deine Gedanken sind.

ORF.at: Sie bewegen sich in Ihren Romanen ganz stark in Referenzsystemen; in der Literatur, in der Geschichte. Sie spielen dann kreativ damit. Ist das Konzeptuelle der Zyklen und dieses Bewegen in Referenzsystemen auch ein Versuch, das Archaische in sich selbst während des Schreibens im Zaum zu halten?

Roth: Zuallererst im Denken. Aber es ist gleichzeitig ein Abenteuer, auf das man sich einlässt. Zu den psychologischen Aspekten kommt die Kraft der Sprache. Es ist wichtig, einen Stil, eine Sprache zu finden - und sich von der Sprache dann leiten zu lassen. Alleine das Formulieren kann einen selbst verändern. Das ist wie ein Stempel, den man in seinen Kopf hineindrückt. Die Sprache treibt oft die Psychologie in fremde Gefilde oder vernichtet sie sogar. Man will dann nicht mehr psychologisch schreiben, sondern sich von den Worten, der Sprache führen lassen.

Es geht um die Mächtigkeit der Sprache, der man sich abwechselnd unterwirft und die man bezwingen kann. Zuerst reizt man die Sprache, dann vertraut man sich ihr an; dieser Tausendfüßler, der mit seinen tausend Worten Sätze hervorzaubert - der ist der zweite große Antrieb. Es geht nicht nur um die Selbsterforschung, es geht mindestens im gleichen Maße um die Mächtigkeit der Sprache.

Es ist ein großartiger Zauber, wenn man beim Schreiben in den Magnetismus der Wörter gelangt, vor allem bei Lyrik.

ORF.at: Ist das Schreiben ein Rauschzustand? Rauschzustände spielen in Ihren Texten ja eine große Rolle.

Roth: Das wechselt sich ab. Es gibt auch „Bastelmomente“, in denen man mit den eigenen Sätzen wie mit einer Collage arbeitet. Manche Schreibmomente empfindet man als großartig - und es ist, wenn man es am nächsten Tag liest, nichts dabei herausgekommen. Zuerst hatte man einen „Rauschzustand“, dann ist man enttäuscht. Es gibt auch das mühsame Schreiben, bei dem man Qual empfindet. Man setzt sich trotzdem hin, wenn man das Gefühl hat, das könnte etwas werden.

Für den Schriftsteller ist das Auflösen der Zeit das Entscheidende. Er muss sich aus der aufgenötigten Zeit heraussprengen. Der Schreibprozess selbst ist das Verlassen der Zeit. Nach ein paar Stunden des Schreibens weiß man nicht, wie lange man dagesessen ist. Außer man muss korrigieren und quält sich dabei. Aber der Schöpfungsprozess bei der ersten Fassung - der ist das Anziehende, die höchste Belohnung, die man bekommen kann.

Später kommen vielleicht Preise, die man sich wünscht. Aber letztendlich bedeutet das nichts im Vergleich zum Moment der Arbeit.

ORF.at: Dieser Zustand, nehme ich an, ist ein einsamer. Sie schreiben in „Orkus“, dass Künstlerfreundschaften „Schlangengruben“ sind. Was passiert, wenn zwei solche einsamen Künstlerindividuen zusammenstoßen?

Roth: Zunächst ist diese Einsamkeit für die mitlebenden Menschen spürbar. Man braucht für das Schreiben sicher einen starken Partner, der sich auch selbst organisieren und der seine eigenen Wünsche in irgendeiner Weise realisieren kann. Es wechseln sich Perioden, in denen man sehr viel spricht, mit Perioden, in denen man gar nicht spricht, ab.

Es gibt Perioden, in denen man trinkt, isst, Freunde braucht. Dann kommen wieder Perioden, in denen man niemanden sehen mag. Es ist kein beamtisches Dasein. Es braucht einen Partner, der improvisieren kann und dieses Improvisieren als das eigentliche Leben empfindet und nicht den geregelten Alltag.

Was die Künstler betrifft, die sind sicher keine besseren Menschen als andere - im Gegenteil: oft eifersüchtig, unzufrieden, unglücklich, geltungsbedürftig. Künstlerfreundschaften kommen zumeist leidenschaftlich zustande. Man versteht sich gut, es gibt einen intensiven, oft jahrelangen Austausch.

Dann wird der Austausch weniger, weil man genau weiß, wie der andere denkt und wie man selbst ist. Dann kommt ein Stadium, in dem man spürt, dass der eine den anderen in irgendeiner Weise unterdrückt, weil er sein Ich stärker ausleben will, als der andere es zulässt.

Einer muss sich anpassen, einer muss nachgeben. Einer wird erfolgreicher, einer weniger. Der eine lebt frei, wie er es gerade für richtig hält, der andere nimmt Rücksicht auf Dinge. Und das passt dann plötzlich nicht mehr zusammen. Dann geht die Freundschaft auseinander.

Die Künstler wetzen schon sehr oft gegenseitig das Messer. Darunter verstehe ich das, was ich Schlangengrube nenne. Es gibt auch wunderbare Freundschaften. Sie zu finden ist unter Künstlern aber schwieriger und seltener.

Das Gespräch führte Simon Hadler, ORF.at

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