„Tag der Reinigung und des Gerichts“
Mehr als zwei Monate nach dem Beginn der Proteste in Ägypten ist der Tahrir-Platz in Kairo wieder zu einem Zentrum für Demonstrationen geworden. Tausende gehen seit einiger Zeit erneut auf die Straße, weil sie fürchten, dass die Revolution nutzlos bleiben werde. Gefordert wird nicht nur, dass der gestürzte Präsident Hosni Mubarak vor Gericht gestellt wird.
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Zum ersten Mal seit dem Sturz Mubaraks kam bei Zusammenstößen zwischen dem Militär und Demonstranten am Samstag ein Mensch ums Leben. Das Opfer erlag seinen Verletzungen, nachdem die Streitkräfte eine Demonstration auf dem Tahrir-Platz mit Gewalt aufgelöst hatten. 71 weitere Menschen erlitten Verletzungen, bestätigte das Gesundheitsministerium in Kairo. Einige wiesen Schussverletzungen auf.
Das Militär war im Anschluss an eine Großkundgebung der Demokratiebewegung eingeschritten, als mehrere hundert Demonstranten den Platz nicht räumen wollten. Zuvor hatten am Freitag Zehntausende Menschen friedlich für Gerichtsverfahren gegen Mubarak und seine Mitarbeiter demonstriert. Die Demonstration stand unter dem Motto „Freitag der Reinigung und des Gerichts“.

APA/EPA/Khaled el Fiqi
ElBaradei: „Die Revolution ist unvollendet.“
„Kein Regimewandel“
Die Opposition wirft den ehemaligen Regimegrößen Korruption und die Tötung von Demonstranten vor. Viele nationale und regionale Politiker und Geschäftsleute des Mubarak-Regimes hätten noch immer das Sagen. Mubarak werden Korruption, Veruntreuung öffentlicher Gelder und Wahlfälschung vorgeworfen. Zwar wurden die Konten seiner Familie eingefroren und ein Reiseverbot verhängt, aber offenbar werden ihm im Badeort Scharm al-Scheich Vergünstigungen wie für ein aktives Staatsoberhaupt gewährt.
Es habe einen „strukturellen Wandel“ gegeben, analysierte das Middle East Research and Information Project (MERIP), aber „ohne einen Regimewandel an sich zu produzieren“. „Die Revolution ist unvollendet“, sagte auch der ehemalige Chef der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), Mohamed ElBaradei, in einem „Presse“-Interview. Denn selbst wenn manche aus der zweiten Reihe des Mubarak-Regimes inhaftiert wurden, die erste Reihe sei ungeschoren geblieben.
Parteien brauchen 5.000 Mitglieder
„Die Menschen haben Angst, dass der postrevolutionäre Moment enden wird, ohne dass sie ihre Rechte bekommen hätten“, sagte der Aktivist Ehab al-Charat gegenüber der „New York Times“ („NYT“). Er ist gerade dabei, die Grundsteine für eine ägyptische sozialdemokratische Partei zu legen. Der Weg zur Demokratie sei schwierig. Denn das bedeute nicht nur, wählen zu gehen, sondern auch, eigene Organisationen und Institutionen zu gründen.
Einfach wird das den Bürgern nicht gemacht. In einem Parteiengesetz gestand der regierende Militärrat die freie Gründung von politischen Parteien zu. Voraussetzung dafür sei aber, dass mindestens 5.000 Mitglieder vorgewiesen werden, kritisierten Bürgerrechtler.
Proteste gegen „Lakaien“ Mubaraks
Neben dem Tahrir-Platz ist seit Wochen auch die Universität Kairo Schauplatz von Studentenprotesten. Sie fordern den Abgang des Studiendekans für Massenkommunikation, Abdel Asis, eines hochrangigen Mitglieds der regierenden Nationaldemokratischen Partei (NDP), den sie als „Lakaien“ Mubaraks bezeichnen. Die Wut an dieser Fakultät sei ein Spiegelbild dessen, was sich draußen abspiele, meinte ein Lektor an der Uni, Scherif Nafie: „Es gibt Zorn, ein Gefühl von Unzufriedenheit in der Arbeit, mit dem Gehalt, im Leben.“
Diese Unzufriedenheit äußert sich manchmal so gewalttätig, dass die Armee vor dem Gebäude des Großscheichs der Al-Azhar-Moschee, der höchsten religiösen Autorität in Ägypten, aus Sicherheitsgründen gepanzerte Fahrzeuge aufstellen musste. Für den Dekan Asis sind die neuen Proteste nicht nachvollziehbar: „Jeder glaubt, dass die Revolution kam, um alles niederzureißen, aber das Gesetz ist nach wie vor gültig.“
Vorwurf an Armee: Ziele verraten
Die Forderungen der Demonstranten bleiben aufrecht: ein Ende des Ausnahmezustands, die Freilassung politischer Gefangener, ein Entfernen der Vertreter des alten Regimes aus öffentlichen Unternehmen und der Politik. Die Revolution und ihre ursprünglichen Ziele seien weit entfernt davon, erfolgreich und umgesetzt zu sein. In über das Internet verbreiteten Videos wird der Armeeführung Verrat an den Zielen des Volksaufstandes vorgeworfen.
Verfassungserklärung
Die Verfassungserklärung des regierenden Militärrats nimmt sowohl Elemente aus der Verfassung der Ära Mubarak als auch die bei einer Volksabstimmung Mitte März beschlossenen Veränderungen auf.
Erst vor wenigen Tagen bekannte sich der Militärrat in einer Verfassungserklärung zu Demokratie und Freiheit. Der seit 30 Jahren geltende Ausnahmezustand, der willkürliche Verhaftungen und Medienzensur ermöglichte, soll demnach noch vor der Parlamentswahl aufgehoben werden.
Allerdings wurde auch - solange der Ausnahmezustand noch gilt - das Streik- und Demonstrationsrecht unter heftiger Kritik beschränkt. Demnach sollen Behörden künftig Strafen verhängen können, wenn jemand Demonstrationen und Versammlungen anführt, die die Arbeit in öffentlichen und privaten Einrichtungen behindern.
Strukturen fehlen noch
Die Übergangsregierung mit Interimschef Essam Scharaf unter der Ägide des Militärrats soll noch bis Herbst im Amt bleiben. Dann folgen die Wahlen zum Parlament und zum Präsidenten. Mögliche Kandidaten sind bisher der Generalsekretär der Arabischen Liga, Amr Mussa, und ElBaradei. Dieser warnt aber vor zu großer Eile, da es noch keine Strukturen und Parteien für die Abhaltung von Wahlen gebe.
Vorteile könnten daraus die noch existierende alte Regierungspartei NDP und die unter Mubarak verbotene islamische Muslimbruderschaft schlagen. Diese erklärte bereits mehrfach, sich an die Regeln der Demokratie halten zu wollen. In ihrer Programmatik bekennt sie sich zur Errichtung eines „islamischen Staats“ auf der Grundlage des islamischen Rechts. Allerdings sollen auch laut der Verfassungserklärung des Militärrats die „Prinzipien der Scharia“ weiterhin „Hauptquelle“ der Rechtsprechung des Landes sein.
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