„Wir können es nicht sehen“
Die japanische Regierung hat am Sonntag erstmals bestätigt, was mehrere Experten bereits am ersten Tag nach dem verheerenden Erdbeben und der Explosion der Hülle eines Reaktors befürchtet hatten: In zumindest einem, vermutlich aber in zwei Reaktoren des AKWs Fukushima sei es „vermutlich zu einer Kernschmelze“ gekommen.
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Laut dem US-TV-Sender CNN räumte Japans Regierungssprecher Yukio Edano erstmals ein: „Wir glauben, dass es eine Möglichkeit für eine Kernschmelze gibt.“ Die Regierung könne es nicht mit Sicherheit sagen, da man nicht in den Reaktor hineinsehen könne: „Es ist im Reaktor. Wir können es nicht sehen. Aber wir nehmen an, dass eine Kernschmelze stattgefunden hat“, so Edano über den Reaktor 1, dessen oberer Teil der Hülle am Samstag bei einer Explosion zerstört worden war.

Reuters/Kyodo (Montage)
Die beiden betroffenen Reaktoren im AKW Fukushima
Am Sonntag warnte Edano vor einer möglichen weiteren Explosion in der Atomanlage Fukushima I: „Wir können nicht ausschließen, dass sich im Bereich des Reaktors 3 wegen einer möglichen Ansammlung von Wasserstoff eine Explosion ereignen könnte.“ Sollte das eintreten, werde das aber „kein Problem“ für den Reaktor bedeuten.
„Erste Phase von Super-GAU“
Er betonte weiteres, dass auch im Reaktor 3 eine Kernschmelze drohe. „Wir nehmen an, dass es auch dort zur Kernschmelze gekommen ist.“ Auch dort fiel das Kühlsystem völlig aus. Insgesamt waren sechs der insgesamt zehn Reaktoren in den Kraftwerken I und II in Fukushima ohne Kühlung.
Die Atomsicherheitskommission hatte schon vor der Explosion erklärt, in dem Reaktor laufe möglicherweise eine Kernschmelze ab. Laut der Nachrichtenagentur Kyodo räumte die Atomsicherheitskommission ein, dass der Reaktor teilweise geschmolzen sei - das wäre der erste Fall dieser Art in Japan. In einer ZIB-Spezialsendung sprach der AKW-Experte Emmerich Seidelberger bereits von einer „ersten Phase des Super-GAUs“.
„Druck erhöht sich allmählich“
In der Nacht auf Sonntag hatte Japan Probleme auch mit dem zweiten Reaktor bekanntgegeben. „Um 5.30 Uhr hat die Versorgung mit Wasser aufgehört, und der Druck im Inneren erhöht sich allmählich“, sagte der Sprecher zur Situation im Reaktor 3.
Im Reaktor 1 wurde mittlerweile mit der Notmaßnahme begonnen, die Betonhülle mit Meerwasser vollzupumpen, das zusätzlich mit Bor versetzt wird, um den Reaktorkern behelfsmäßig zu kühlen. Aus der Sicht des US-Experten Mark Hibbs ist allerdings allein diese Maßnahme ein Beleg für den Ernst der Lage. „Sie arbeiten wie besessen daran, den Kern zu kühlen“, erklärte Hibbs gegenüber der Nachrichtenagentur AP. Das Einleiten von Meerwasser sei ein Indiz dafür, „wie ernst das Problem dort ist und wie die Japaner zu unüblichen und improvisierten Lösungen greifen mussten, um den Reaktorkern zu kühlen.“
Im Reaktor 3 wurde Dampf abgelassen, um eine Explosion zu verhindern - damit wurde zum zweiten Mal deutlich über den Grenzwert Radioaktivität freigesetzt. Der Kern von Reaktor 1, der von einem 15 Zentimeter dicken Stahlmantel umhüllt wird, wurde bei der Explosion angeblich nicht beschädigt. Die japanische Atomaufsicht stufte die Explosion als „Unfall“ der Stufe vier auf einer Skala von null bis sieben ein.
Kritik an Informationspolitik
Beim Reaktor 3 habe man „frühzeitig damit begonnen“, Druck abzulassen und Wasser einzupumpen, so Edano. Diese Methode wurde auch bei Block 1 angewendet. Beobachter werteten das als Eingeständnis, dass die Regierung bisher zu zögerlich vorging. Kritiker werfen ihr schwaches Krisenmanagement vor. Ministerpräsident Naoto Kan wurde in den japanischen Medien wegen der Informationspolitik seiner Regierung kritisiert. Mehrere Zeitungen schrieben, die Informationen flössen nur spärlich, die Anordnungen zur Evakuierung der Anwohner der beschädigten Reaktoren in Fukushima seien zu spät gekommen.
„Kleine Menge“
Ein Sprecher des Betreibers sagte am Sonntag, die Menge der Strahlung sei klein und beeinträchtige die Gesundheit von Menschen nicht. Laut Regierungssprecher Edano sei die radioaktive Strahlung mittlerweile wieder deutlich zurückgegangen. Details zu den Vorgängen im AKW gab die Regierung bisher nicht bekannt. So rätseln weltweit Experten derzeit, wie gefährlich die Situation tatsächlich ist. Während japanische Experten betonen, die Reaktoren in Fukushima würden selbst eine Kernschmelze standhalten, ein Vergleich mit dem Super-GAU in Tschernobyl vor fast genau 25 Jahren daher nicht richtig, zeigten sich westliche Experten teils deutlich skeptischer.

Graphi-Ogre; ORF.at (Montage)
Das AKW Fukushima liegt rund 250 Kilometer nordöstlich von Tokio.
Gegenüber der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) mit Sitz in Wien hatte Japan zuvor noch versucht, die weltweite Sorge um eine atomare Katastrophe nach dem Erdbeben vom Freitag zu zerstreuen. Die japanische Regierung erklärte Sonntagfrüh (Ortszeit), die Lage im AKW Fukushima sei unter Kontrolle.
Wind wehte Radioaktivität in Richtung Norden
Bisher seien 200.000 Menschen aus der Gefahrenzone gebracht worden. Ein Mitarbeiter einer Umweltschutzorganisation berichtete aber auch von erhöhten Werten außerhalb der Evakuierungszone, berichtete der ORF-Korrespondent Jörg Winter. Gemeldet wurde auch, dass in der nordöstlichen Provinz Miyagi die Radioaktivität 400-mal höher sei als normal. Experten vermuten, dass Wind Radioaktivität aus der Provinz Fukushima herübergeweht habe.
Aufgrund der meteorologischen Analysen erwartet Japan nächste Woche ein Tiefdruckgebiet, demzufolge in 48 Stunden Tokio von einer allfälligen radioaktiven Wolke betroffen wäre.
Mindestens 20 Menschen verstrahlt
Die gewaltige Explosion zerstörte Teile des Atomkraftwerks Fukushima I. Mit ungeheurer Wucht wurden Trümmer in die Luft geschleudert, große Rauchwolken breiteten sich über der Anlage aus. Nach der Explosion hatte die Regierung den Evakuierungsradius um die beschädigten Kernkraftwerke auf 20 Kilometer verdoppelt. Zu der Explosion war es während eines Nachbebens gekommen, wie der Betreiber der Anlage laut Nachrichtenagentur Kyodo mitteilte. Mindestens 20 Personen wurden verstrahlt. Diese Zahl könnte laut Behörden auf bis zu 160 steigen.
Lage für Greenpeace „dramatisch“
Ein Greenpeace-Sprecher sagte, dass neben der möglichen Kernschmelze in Reaktor 1 in einem weiteren Reaktor des gleichen Kraftwerks ein solches Szenario drohe. Fünf der zehn Reaktoren in den beiden Kraftwerken seien ohne Kühlung, sagte der Sprecher unter Verweis auf Informationen aus der Krisenregion. Angesichts der Verkettung unterschiedlicher Ereignisse sei die Lage womöglich außer Kontrolle. „Es ist dramatisch, weil derzeit scheinbar unkontrolliert Radioaktivität austritt.“
„Angsterregend“
Der Atomunfall im AKW Fukushima nach dem schweren Erdbeben mit Tsunami in Japan stellt die Behörden vor enorme Herausforderungen. Tausende aus der Gegend um das Kraftwerk evakuierte Menschen werden auf Radioaktivität gescannt. In den Evakuierungszentren untersuchen Arbeiter mit weißen Masken und Schutzbekleidung die Neuankömmlinge mit tragbaren Geräten. Möglicherweise verstrahlte Personen wurden von den anderen abgesondert - Video dazu in iptv.ORF.at.
Japans Atomsicherheitsagentur betont, dass der Unfall weniger ernst sei als jener von Three Mile Island (1979) und die Katastrophe von Tschernobyl (1986). Die Behörden wurden jedoch angewiesen, sich auf die Ausgabe von Jodtabletten an die Bevölkerung vorzubereiten, um im Fall einer atomaren Katastrophe so zumindest das Schilddrüsenkrebsrisiko bei den Verstrahlten zu senken.
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