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Lauter Gewinner unter den Verlierern

Bei den diesjährigen Oscars setzt die Academy of Motion Picture Arts and Sciences einen Weg fort, den sie bereits seit Jahren - mit wenigen Ausnahmen - konsequent beschreitet: in den wichtigen Kategorien Filme zu prämieren, die weit entfernt sind vom Blockbuster-Mainstream. Dennoch stellt sich die Frage nach dem grundsätzlichen Sinn solcher Veranstaltungen gerade heuer wieder.

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Der stotternde König setzte sich mit vier Preisen („Bester Film“, „Bester Hauptdarsteller“, „Beste Regie“, „Bestes Originaldrehbuch“) bei der 83. Oscar-Verleihung gegen den talentierten Nerd durch: Wie bereits erwartet worden war, spielte sich das Rennen, wenn man von „technischen“ Kategorien absieht, bei denen „Inception“ vorne lag, zwischen lediglich zwei Streifen ab: „The King’s Speech“ und „The Social Network“ (Oscars für beste Filmmusik, besten Schnitt, bestes adaptiertes Drehbuch).

US-Schauspielerin Hailee Steinfeld

APA/EPA/Andrew Gombert

Hailee Steinfeld wurde als Favoritin für den Oscar in der Kategorie „Beste Nebendarstellerin“ gehandelt. Sie ging trotz Glanzleistung in „True Grit“ leer aus.

Die Jury will berührt werden

Tom Hoopers sympathisches Monarchenporträt führte die Liste der Nominierungen mit zwölf an und setzte sich schließlich durch. David Finchers Facebook-Streifen fehlte für die gewohnt auf Emotionen bedachte Academy-Jury vor allem eines: Herz. Dabei hatte alles vor wenigen Wochen noch ganz anders ausgesehen: „The Social Network“ räumte vier Golden Globes und nahezu alle Kritikerpreise ab, galt als uneinholbarer Favorit für die Oscars.

Doch dann war es der vergleichsweise kleine britische Überraschungshit „The King’s Speech“, der bei den Verleihungen der Schauspieler-, Produzenten- und Regie-Gewerkschaften triumphierte: Zwei Screen Actors Guild Awards (SAG) für das Schauspielerensemble und Colin Firth als Hauptdarsteller, der Directors Guild Award (DGA) an Regisseur Hooper und der Producers Guild Award (PGA) sprachen für sich.

Das Bauchgefühl-Barometer

Der Produzent - bei „The King’s Speech“ kein Geringerer als Branchenschwergewicht Harvey Weinstein - war schließlich auch jener, der sich die Oscar-Statuette für den besten Film auf der Bühne abholen durfte. Im vergangen Jahr hatte der PGA-prämierte Film „The Hurt Locker“ das viel bejubelte „Avatar“ geschlagen.

Für Branchenkenner ist die Präferenz der riesigen Gewerkschaften ein stärkeres Oscar-Barometer als Kritikerzuspruch. Während US-Filmkritiker tendenziell jene Filme preisen, die cineastisch neue Wege gehen und die aktuelle Zeit porträtieren - was „The Social Network“ in einer Zeit der zunehmenden Bedeutung von Social-Media-Plattformen definitiv tut -, lassen die rund 6.000 Mitglieder der Academy oft ihr Bauchgefühl und Herz entscheiden.

Nur nicht zu sehr aufwühlen

Die vielfach nominierten Konkurrenten von „The King’s Speech“ erzeugen nämlich eines nicht: ein gutes Gefühl im Zuseher. „The Social Network“ (acht Nominierungen, vier Preise) porträtiert den überheblichen, durch Kalkül erfolgreichen Mark Zuckerberg, der Coen-Western „True Grit“ (zehn Nominierungen, kein Preis) schickt ein junges Mädchen mit einem alten Alkoholiker auf einen Rachefeldzug (zu anarchistisch für die Jury), Christopher Nolans Thriller „Inception“ (acht Nominierungen, vier Preise) wühlt auf und überfordert so manche, David O. Russells Boxdrama „The Fighter“ (sieben Nominierungen, zwei Preise) behandelt Kampfsport und Drogensucht - und Danny Boyle schockierte in „127 Hours“ (sechs Nominierungen, kein Preis) mit einer realistischen Amputationsszene.

Moderatoren der 83.Oscar-Verleihung Anne Hathaway und James Franco

AP/Chris Pizzello

Moderator James Franco, nominiert als bester Hauptdarsteller, ging leer aus; neben ihm Komoderatorin Anne Hathaway.

Bewegende Entstehungsgeschichte hilft

Da stach die bewegende Geschichte vom liebenswürdigen „Bertie“, der seine Stotterprobleme überwindet und sich im von royaler Kälte geprägten Königshaus behauptet, heraus. Storys über Hürden überwindende Helden sieht die Academy gern: Das in den indischen Slums spielende moderne Märchen „Slumdog Millionaire“ von Danny Boyle wurde so bei der Verleihung vor zwei Jahren zum sympathischen Abräumer.

Auch die Entstehung von „The King’s Speech“ war die eines klassischen Oscar-Favoriten: So wartete Drehbuchautor David Seidler, selbst lange Stotterer und des Königs inspirierter Bewunderer, auf Wunsch der „Queen Mum“, Ehefrau des Porträtierten, beinahe 30 Jahre bis zur Vollendung des Filmprojekts und hat nun sogar den Segen deren Tochter, Queen Elizabeth II.

Die Befreiung der Sprachlosen

Doch die britische, historische Produktion verbindet mit seinem amerikanischen, modernen Hauptkonkurrenten mehr, als man auf den ersten Blick glaubt: Beide Filme porträtieren wahre Personen, handeln von Freundschaft, ungewöhnlichen Siegergeschichten - und Kommunikation.

Der König lernt einwandfrei sprechen, der Harvard-Student erfindet ein weltumspannendes Kommunikationsnetzwerk. Doch während uns Jesse Eisenberg als Mark Zuckerberg die düstere, machtbesessene Seite der Menschen vor Augen hält, zeigt uns Firths Charakter auf, zu welch großen Taten wir fähig sind.

Dichtes Feld

So erfreulich die hohe Qualität der nominierten Streifen heuer war, sie zeigt auch das Dilemma von Preisverleihungen allgemein. „127 Hours“, „The Social Network“ und „True Grit“ hätten den Oscar für den besten Film ebenfalls verdient und wären in schwächeren Jahren allesamt würdige Gewinner gewesen. Ein weiteres Beispiel ist die Kategorie „Bester Hauptdarsteller“: Javier Bardem („Biutiful“), Jeff Bridges („True Grit“), Jesse Eisenberg („The Social Network“) und James Franco („127 Hours“) haben allesamt Oscar-verdächtige Darbietungen geliefert.

Wer im Endeffekt gewinnt, hängt dann von der Dynamik innerhalb der Academy, von Psychologie und nicht zuletzt vom Zufall ab. Immerhin hat die Preisverleihung eines gezeigt: Ins Kino zu gehen zahlt sich derzeit aus.

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