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Ein Film nimmt klar Partei

Die Deutsche Bahn nennt es „das größte Ausbauprojekt seit dem 19. Jahrhundert". Die Gegner nennen es ein gigantisches Spekulationsobjekt, das mittlerweile 4,1 Milliarden Euro kostet, damit ab 2019 die Züge den Stuttgarter Hauptbahnhof um ein paar Minuten schneller verlassen können. Der Film „Stuttgart 21 – Denk mal!“ erzählt von den Beweggründen der Menschen, als Protest auf die Straße zu gehen.

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Der Film versteht sich als „Herzensangelegenheit“, wie es Produzent Peter Rommel, selbst ein Stuttgarter, im Gespräch mit ORF.at ausdrückt. Rommel spricht von der Arroganz der Politiker, ihrer Selbstgefälligkeit und nicht zuletzt von den 280 teils jahrhundertealten Bäumen, die für den Neubau teilweise bereits gefällt wurden: „Während des Zweiten Weltkrieges haben sich die Politiker schon überlegt, ob sie die fällen sollen, weil sie sie als Brennholz nehmen wollten. Damals haben sich die Bürger dagegen entschieden. ‚Unsere Bäume sind uns heilig‘, haben sie gesagt. Das hat mir meine Mutter erzählt, und das ist auch ein Beweggrund für mich, den Film zu machen. Die machen unsere Stadt kaputt und unsere Lebensqualität.“

Nachtbild vom Suttgarter Bahnhof mit Stuttgart 21-Schild

Lisa Sperling

Wer hat die Macht? Die Bürger oder die Konzerne?

Demonstranten drehen mit

Lisa Sperling (25) und Florian Kläger (24), zwei angehende Filmstudenten, drehten „Stuttgart 21“. Die beiden demonstrierten selbst monatelang und zeichneten den Protest der Bürger mit der Kamera auf.

"Im Prinzip hat man ja nichts gegen einen neuen Bahnhof, aber die ganzen Unwahrheiten, die in den letzten Jahren hochgekommen sind: dass das anfangs 1,9 Milliarden Euro gekostet hat und plötzlich über vier Milliarden. Da haben die Leute gemerkt, da stimmt was nicht, da ist was faul, und je mehr sie nachfragen, desto mehr Dinge kommen zum Vorschein, da geht es vielen auch ums Prinzip“, sagt Sperling über das „Stuttgart 21“-Projekt.

Wir sind keine „Wutbürger“

Junge, Alte, Menschen aus allen Schichten wehren sich gegen die undurchsichtige Entscheidungsmaschinerie von Bahnmanagement, Bundes- und Landespolitik, die ein Projekt, das vor mehr als 20 Jahren geplant wurde, am liebsten ohne Bürgerbeteiligung durchziehen wollte. Den Demonstranten wurde von der deutschen Presse das Etikett „Wutbürger“ verpasst.

Sperling fühlt sich durch den Begriff aber überhaupt nicht angesprochen: „Das ist keine Wut, die wir haben, wir sind Bürger, die nachdenken, das ist ja nichts Stumpfes, wie in Berlin, wo die Leute am 1. Mai auf die Straße gehen und alles kurz und klein schlagen.“

Produzent Rommel, der väterliche Mentor der zwei Nachwuchsfilmemacher, bläst ins selbe Horn: „Wutbürger, das ist ein bescheuerter Begriff, ich bin kein Wutbürger, sondern ein denkender Mensch.“

Gewalt gegen Demonstranten

Sperlings und Klägers Film gibt den „Stuttgart 21“-Gegnern ein breites Forum, den Befürwortern – auch sie gibt es, und nicht nur unter den Landespolitikern – gar keines. So gesehen hält „Stuttgart 21 – Denk mal!“ genau das, was der Titel verspricht – eine Hommage an ein kollektives Gefühl, dass der Einzelne doch nicht ganz machtlos ist, an eine Protestbewegung, die in der behäbigen Schwabenmetropole am wenigsten zu erwarten war.

Die Polizei hat die Proteste, die am 30. September 2010 kulminierten, mit Wasserwerfern und Pfefferspray unterbunden. Es gab Verletzte, ein Pensionist ist durch den Einsatz fast erblindet. Das Foto des Opfers schaffte es in die überregionale Presse und trübte das Image eines Rechtsstaates, der martialisch gegen die eigenen rechtschaffenen Bürger vorgeht.

Der Protest geht weiter

Den Bau des unterirdischen Bahnhofs konnten die Proteste bisher nicht verhinder. „Die Stimmung ist ein Stück weit gekippt“, sagt Koregisseur Kläger, „im Moment sind die Leute enttäuscht. Aber die Stuttgarter sind stur, als wir im Jänner das letzte Mal auf einer Großdemonstration waren, waren immer noch 30.000 Leute auf der Straße. Da schwingt noch Hoffnung mit.“

Dass es dieser Film auf die Berlinale geschafft hat, darf mehr als politisches Statement denn als künstlerische Entscheidung der Auswahljury gewertet werden. Produzent Rommel, der bereits mehrere Filme im Wettbewerb zeigen konnte, hat Festivaldirektor Dieter Kosslick für das Thema begeistern können, als noch gar nicht klar war, dass daraus ein Film entstehen würde. Nach der Premiere am Freitag wird der Film durch Baden-Württembergs Kinos touren – rechtzeitig vor der Landtagswahl am 27. März.

Alexander Musik, ORF.at aus Berlin

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