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Wartezeit erreicht europäischen Rekord

Am Donnerstag wird Belgien 249 Tage ohne Regierung sein. Für diesen Tag wurde zur Aktion „Shame“ aufgerufen - als Protest gegen die europäische Rekordwartezeit auf eine Regierung. Im weltweiten Vergleich wurde Belgien bisher nur vom Irak geschlagen. Dort dauerte die Regierungsbildung bisher noch länger.

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Das Land steckt seit April 2010 in der Krise, als die Koalition unter Yves Leterme am Streit zwischen flämischen und wallonischen Belgiern zerbracht. Nach der Neuwahl im Juni blieben die Anläufe für eine neue Regierung und die damit zusammenhängende Staatsreform erfolglos. Gestritten wird vor allem über die künftige Macht der Gliedstaaten und die Finanzen, den Status der Hauptstadt Brüssel und die Minderheitenrechte der Frankophonen in Flandern. Mit seinen Vermittlern ist der belgische König Albert II. bisher immer gescheitert.

„Sexstreik“ für schnellere Verhandlungen

Der Unmut in der Bevölkerung wächst. Bereits Ende Jänner gingen über 30.000 Menschen in Brüssel auf die Straße. Die Protestvorschläge werden immer kurioser. Der Schauspieler Benoit Poelvoorde forderte die männlichen Belgier auf, sich bis zu einer neuen Regierung nicht mehr zu rasieren - um den Frust auf den Gesichtern ablesbar zu machen.

Die Senatorin Marleen Temmerman rief die Frauen zu einem „Sexstreik“ auf, um den Druck zur Lösung der scheinbar endlosen Politkrise zu erhöhen: Wenn sich die Frauen der Spitzenabgeordneten auf sexuelle Enthaltsamkeit einigen würden, „dann könnten die Verhandlungen schneller voranschreiten“. Obwohl die Idee gar nicht so ernst gemeint war, erhielt Temmerman viel Zuspruch.

Neuer Vermittler des Königs

Bisher verhandeln sieben Parteien aus dem niederländischsprachigen Norden und dem französischsprachigen Süden über eine Staatsreform, die den Regionen mehr Kompetenzen bringen soll. Diese Reform ist Vorbedingung für die Bildung einer neuen Regierung. Bei den Gesprächen stehen einander die beiden Sieger der Parlamentswahl vom Juni vergangenen Jahres - die französischsprachigen Sozialisten und die flämische Nationalistenpartei N-VA - unversöhnlich gegenüber.

Nachdem der letzte Vermittler des Königs, Johan vande Lanotte, Ende Jänner sein Mandat niedergelegt hatte, setzte Albert II. nun erstmals den liberalen Spitzenpolitiker und Finanzminister Didier Reynders für die Gespräche ein. Er soll nun bis Mittwoch über Kompromissmöglichkeiten zu einer Staatsreform berichten. Die Liberalen saßen bisher nicht am Verhandlungstisch. Allerdings ist Reynders’ Einfluss ebenfalls fraglich. Ob Reynders ernsthaft an einen Erfolg seiner Mission glauben könne, fragte ein Politologe in der Zeitung „Le Soir“. Reynders sei sehr intelligent, die Antwort daher „nein“.

Neues Euro-Sorgenkind?

Bis zur Bildung einer neuen Koalition führt Ministerpräsident Leterme kommissarisch die Regierungsgeschäfte. Sein längst abgewähltes Kabinett hatte das Land im zweiten Halbjahr 2010 auch durch die belgische EU-Ratspräsidentschaft geführt. Inzwischen droht das hoch verschuldete Belgien wegen der politischen Krise selbst zu einem neuen Euro-Sorgenkind zu werden. Schon nach dem letzten Verhandlungsabbruch waren die Risikoaufschläge für Staatsanleihen auf ein Rekordniveau geklettert.

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