„Der organische Rhythmus aller Dinge“
Die Jahre zwischen 1895 und 1910 waren Jahre des geistigen Um- und Aufbruchs. Durch wissenschaftliche Erkenntnisse gingen Sicherheiten verloren - und Freiheiten wurden dazugewonnen. Aus dieser Stimmung heraus kamen die Künstler rund um die Redaktion des Almanachs „Der Blaue Reiter“ in München zusammen. In der Albertina ist eine umfangreiche Ausstellung ihrer Werke auf Papier zu sehen.
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„Der Blauer Reiter“ ist eine Legende in der Kunstgeschichte. Die einen halten ihn für die wichtigste Kunstrichtung des 20. Jahrhunderts neben der „Brücke“ und sehen in ihm den Anstoß für den Aufbruch in die Moderne. Andere wiederum halten die Bilder von Wassily Kandinsky, Franz Marc, Paul Klee und Alfred Kubin für gefühlsduseligen, esoterischen Kitsch. Die Künstler selbst wiederum bestanden darauf, gar keine eigene Gruppe oder Gattung bilden zu wollen.

Städtische Galerie München/VBK Wien, 2011
Wassily Kandinsky. Entwurf für den Umschlag des Almanachs, 1911
Anfang Jänner 1911 trafen einander Kandinsky und Marc zum ersten Mal. Gemeinsam besuchten sie ein Konzert von Arnold Schönberg, das beide tief beeindruckte. Sowohl Kandinsky als auch Marc waren damals Mitglieder der Neuen Künstlervereinigung München (N.K.V.M). Nach internen Querelen provozierten die beiden einen Streit, um aus der Vereinigung ausgeschlossen zu werden. Sie bildeten daraufhin ihren eigenen Kreis rund um die Erarbeitung einer Ausstellung und des Kunstalmanachs „Der Blaue Reiter“, von dem allerdings nur ein Band erschien.
Das Innenleben nach außen kehren
Darin erarbeiteten sie das theoretische Gerüst ihres losen neuen Kreises, dem sich auch Heinrich Campendonk, August Macke, Kandinskys Lebensgefährtin Gabriele Münter, Lyonel Feininger, Alexej Jawlensky, Klee, Kubin, Marianne von Werefkin und andere anschlossen. Die gemeinsame Klammer um diese Künstler, deren Bilder mitunter ästhetisch nichts gemein haben, ist der Versuch, das Innenleben von Menschen und Tieren, Stimmungen und Gefühlslagen bildlich umzusetzen.

Städtische Galerie München
August Macke. Franz und Maria Marc im Atelier, 1912
Albertina-Direktor Klaus-Albrecht Schröder erwähnt in diesem Zusammenhang die wissenschaftlichen Erkenntnisse und Moden der Zeit. Freud habe seine Theorie des Unbewussten entwickelt, Albert Einstein die Relativitätstheorie und Marie Curie unsichtbare chemische Elemente entdeckt. Es habe sich also die Erkenntnis durchgesetzt, dass es neben der fassbaren, sichtbaren Welt auch noch eine unsichtbare gibt, die dennoch real existiert und wissenschaftlich nachgewiesen werden kann. So sei auch Kandinskys Interesse für Theosophie (das Studium okkulter Lehren) und Synästhesie (verschiedene Sinnesorgane werden gekoppelt - etwa wenn bestimmte Buchstaben mit speziellen Farben verbunden werden, oder Töne mit Gerüchen) zu verstehen.
„Astralkörper“ und krakelige Striche
In der Ausstellung hängt etwa ein Bild von einer Frau, die durch Straßen wandelt. Die recht konventionelle Darstellung hat Kandinsky durchbrochen, indem er einen großen schwarzen Fleck neben die Figur malte, der ihren „Astralkörper“ darstellen soll. Kandinsky wollte damit kein Esoteriker sein. Vielmehr war er überzeugt, dass schon in wenigen Jahren Fotoapparate entwickelt werden würden, mit denen sich mühelos und unhinterfragt die Astralkörper der Menschen fotografieren lassen würden. Ob Kandinsky heute anders denken würde oder ein begeisterter Aura-Fotograf wäre, muss dahingestellt bleiben.
Sein Werk strotzt jedenfalls vor symbolischem Reichtum. Für seine bildnerischen „Symphonien“, die oft von Musik beeinflusst waren, hat er ein Zeichensystem entwickelt. Seine bunten Bilder enthielten dünne, krakelige Striche, Flächen und Symbole, die den knalligen Kitsch relativierten und den Bildern Fragilität verliehen.

Städtische Galerie München/VBK Wien, 2011
Paul Klee. Zerstörter Ort, 1920
Das Unsichtbare sichtbar machen
Die Künstler des „Blauen Reiters“ beeinflussten einander gegenseitig. Aber auch der Fauvismus und der Kubismus waren wichtige Einflüsse, was bei einigen Bildern von Marc, Kandinsky und Klee ganz deutlich zum Ausdruck kommt. Gesucht wurde nicht der Weg in die Abstraktion, aber auch kein Festhalten am Gegenständlichen. Abgebildet sollte die Realität werden, aber inklusive jener Dimensionen, die man mit dem freien Auge nicht sieht. Für den Betrachter mag das nicht immer schlüssig sein, wenn man aber die ganze Breite der Zeichnungen in der Albertina sieht, erkennt man das als theoretische Klammer.
Bei Kubin äußert sich das in dunklen, traurigen Gemälden, die seine Depressionen und Ängste spiegeln. Heute würden solche Bilder wohl als Therapiekunst abgetan. Marc wiederum wurde mit seinen Tieren berühmt - den „Bunten Pferden“ und auch speziell mit der glücklich durch Zeit und Raum schwebenden „Gelben Kuh“.
„Das Zittern und Rinnen des Blutes“
Im Katalog zur Ausstellung wird Marc zitiert: „Ich suche mein Empfinden für den organischen Rhythmus aller Dinge zu steigern, suche mich pantheistisch einzufühlen in das Zittern und Rinnen des Blutes in der Natur, in den Bäumen, in den Tieren, in der Luft, - (...). Ich sehe kein glücklicheres Mittel zur ‚Animalisierung‘ der Kunst als das Tierbild. (...) Der Beschauer sollte gar nicht nach dem ‚Pferdetyp‘ fragen können, sondern das innerlich zitternde Tierleben herausfühlen.“
Für die Ausstellung in der Albertina sollte man gut zwei Stunden einkalkulieren, besser mehr. Die Räume sind nach Künstlern geordnet, am meisten Platz ist Kandinsky und Klee gewidmet. Von Marc hätte es etwas mehr sein dürfen. Allerdings sind seine Postkarten an Kandinsky ein echter Höhepunkt (vor allem der „Zinnobergruß“). So stilvoll möchte man auch einmal zum Essen eingeladen werden.
Simon Hadler, ORF.at
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