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„Von politischen Kräften manipuliert“

Der von Millionen Ägyptern zum Rücktritt aufgeforderte Präsident Hosni Mubarak hat am Dienstagabend in einer TV-Rede den Verzicht auf eine weitere Amtszeit angekündigt. Bis zur regulär im September anstehenden Präsidentschaftswahl wolle er aber noch im Amt bleiben und neben einer geregelten Machtübergabe auch Reformen für eine Demokratisierung des Landes in die Wege leiten.

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Unter anderem versprach Mubarak eine Verfassungsänderung. Veränderungen solle es bei der Amtszeit des Präsidenten und der Zahl der zugelassenen Kandidaten geben. Seinen Stellvertreter Omar Suleiman habe er angewiesen, den Dialog mit allen politischen Kräften zu suchen.

In der mit Spannung erwarteten, vom Staatsfernsehen übertragenen Rede kritisierte Mubarak aber auch die seit acht Tagen anhaltenden Proteste und bezeichnete diese als „von politischen Kräften manipuliert“. Er schloss zudem aus, ins Exil zu gehen. „Das Land ist auch meine Heimat, und in diesem werde ich sterben“, sagte Mubarak. Er endete seine Rede mit dem Satz: „Möge Gott dieses Land und sein Volk schützen.“

Die Proteste gingen auch in der Nacht auf Mittwoch weiter. In der Hafenstadt Alexandria lieferten einander in der Nacht Anhänger und Gegner von Mubarak gewalttätige Auseinandersetzungen. Die Menge geriet in Panik, die Armee soll Warnschüsse abgefeuert haben.

Obama: Übergang muss beginnen

Nach Mubaraks Rede forderte US-Präsident Barack Obama ihn in einem Telefonat zur Übergabe der Macht auf. Der friedliche und geordnete Übergangsprozess müsse „jetzt“ beginnen, so Obama. Den Forderungen der ägyptischen Opposition nach einem sofortigen Rücktritt Mubaraks schloss sich der US-Präsident allerdings nicht an. Nach Angaben des Weißen Hauses sprach Obama eine halbe Stunde mit dem ägyptischen Staatschef.

„Verschwinde, verschwinde“

Mit „verschwinde, verschwinde“ waren die Reaktionen auf dem weiter von Demonstranten gefüllten Tahrir-Platz in Kairo eindeutig. „Wir werden nicht gehen, er wird gehen“, rief eine Gruppe Oppositioneller. Laut al-Jazeera hielten auch in anderen Städten die Regierungsgegner an ihrer Forderung nach einem sofortigen Rücktritt fest.

Wütender Mann mit Schuh in der Hand

Reuters/Dylan Martinez

Empörte Reaktionen auf Mubaraks Rede

Auch die oppositionelle ägyptische Jugendbewegung 6. April lehnt einen politischen Kompromiss mit Mubarak ab. Ein Sprecher betonte nach Mubaraks Ankündigung, bis zum Ende seiner Amtszeit an der Macht bleiben zu wollen: „Wir lehnen das ab, weil es unsere Forderungen nicht erfüllt.“ Der frühere stellvertretende US-Sicherheitsberater Elliot Abrams sagte dem TV-Sender CNN, er könne sich nicht vorstellen, dass die Menschen einem seit 30 Jahren Regierenden abnehmen, für einen demokratischen Übergang zu sorgen.

Amr Mussa, Generalsekretär der Arabischen Liga, warnte unterdessen davor, das Angebot Mubaraks gleich vom Tisch zu fegen. „Ich glaube, dass da etwas angeboten wurde, über das man genau nachdenken sollte“, sagte Mussa gegenüber CNN. Der zu den führenden Oppositionspolitikern zählende Mohamed ElBaradei zeigte sich dagegen enttäuscht. „Wie immer hört er nicht auf sein Volk.“

Nachgeben auf Druck der USA?

Experten räumen Mubarak kaum noch Chancen auf einen Machterhalt ein. Es gehe jetzt darum, dem Staatschef einen Abgang zu ermöglichen, bei dem dieser sein Gesicht waren könne, sagte etwa Steven Cook vom renommierten Council on Foreign Relations. Den vermutlich entscheidenden Stoß bekam Mubarak den Beobachtern zufolge von seinen Generälen versetzt, die am Montag klargemacht hatten, dass sie keine Gewalt gegen friedliche Demonstranten einsetzen würden.

Hinter dem Verzicht auf eine weitere Amtszeit könnte laut einem Medienbericht auch zunehmender Druck aus den USA stehen. Obama habe ihm ausgerichtet, bei der Wahl im Herbst lieber nicht wieder zu kandidieren, berichtete die „New York Times“ („NYT“) am Dienstagabend (MEZ) in ihrer Onlineausgabe mit Berufung auf US-Diplomaten in Kairo und Washington.

Der frühere US-Botschafter Frank Wisner, der am Vortag von Washington als Sondergesandter nach Kairo geschickt wurde, habe dem seit 30 Jahren herrschenden Mubarak diese Aufforderung überbracht. Wisner habe zwar nicht direkt seinen Rücktritt verlangt, ihm aber verständlich gemacht, dass er den Weg für einen Reformprozess und freie Wahlen frei machen solle, berichtete die „NYT“ weiter. Bereits zuvor hatte Obama über einen Sprecher seinen Wunsch nach einem „geordneten Übergang“ in Ägypten geäußert.

ElBaradei-Treffen mit US-Vertretern

ElBaradei forderte am Dienstag von Mubarak einen Rücktritt bis Freitag. Nur dann könne ein Dialog mit der Regierung begonnen werden, sagte der Friedensnobelpreisträger dem Fernsehsender al-Arabija. Die Demonstranten wollten, dass „das ein Ende hat, wenn nicht heute, dann spätestens am Freitag“, so ElBaradei, laut dem die Ägypter den Freitag bereits den „Tag des Abgangs“ getauft haben. Auch 50 ägyptische Menschenrechtsorganisationen forderten in einer gemeinsamen Erklärung, Mubarak müsse „sich zurückziehen, um ein Blutbad zu verhindern“.

ElBaradei besprach am Dienstag erstmals auch mit westlichen Vertretern Szenarien für die Übergangszeit im Falle eines Rücktritts von Mubarak. Unter anderem führte der Oppositionspolitiker Telefongespräche mit den Botschaftern der USA und Großbritanniens. Ein Vertreter der US-Regierung in Washington bestätigte, dass die US-Botschafterin in Kairo, Margaret Scobey, mit ElBaradei telefoniert hatte. Das Gespräch sei Teil der Kontakte zu verschiedenen ägyptischen Oppositionsgruppen.

ElBaradei nennt mehrere Optionen

Konkret habe ElBaradei vorgeschlagen, den neuen Vizepräsidenten Suleiman als Übergangspräsidenten einzusetzen. Während dessen Regierungszeit könnten die beiden Parlamentskammern aufgelöst und die Verfassung mit Blick auf Präsidentschafts- und Parlamentswahlen überarbeitet werden. Als Alternative schlug ElBaradei den Angaben zufolge die Einsetzung eines Präsidialrates vor, dem ein Armeevertreter und zwei Zivilisten angehören. Das Triumvirat könne dann den Übergang zu einer Demokratie einleiten.

Offenbar konnten sich Vertreter aller größeren Oppositionsparteien und -bewegungen zuvor auf eine gemeinsame Linie einigen. Neben dem Rücktritt Mubaraks und der Auflösung der Parlamentskammern und Regionalparlamente soll eine Arbeitsgruppe auch mit der Ausarbeitung einer neuen Verfassung beauftragt werden.

Al-Jazeera: Zwei Millionen allein in Kairo

Millionen Menschen waren zuvor dem Aufruf der Opposition zu einem friedlichen „Marsch der Million“ gegen Mubarak gefolgt. Allein in der Hauptstadt Kairo demonstrierten am Nachmittag nach Informationen des Senders al-Jazeera bis zu zwei Millionen. Auch in Alexandria, Sues und auf der Sinai-Halbinsel waren laut al-Jazeera Hunderttausende Menschen dem Demonstrationsaufruf gefolgt. Kommentatoren sprachen vom größten Massenprotest in der Geschichte des Landes.

Hunderttausende Demonstrierende bei Nacht

APA/EPA/dpa/Hannibal Hanschke

Der mit Demonstranten gefüllte Tahrir-Platz in Kairo am Dienstagabend

Militär spielt Schlüsselrolle

Das Militär, bisher eine der wichtigsten Säulen im Machtapparat Mubaraks, hielt sich weiter zurück. Zwar errichteten Soldaten auf dem Tahrir-Platz in Kairo Barrikaden, aber anders als die Polizei am vergangenen Freitag griffen sie nicht gewaltsam ein, sondern ließen die Demonstranten gewähren.

Die Haltung der Generäle, die am Montag klargemacht hatten, dass sie keine Gewalt gegen friedliche Demonstranten einsetzen würden, war das bisher deutlichste Zeichen, dass die Ära Mubarak bald enden könnte.

TV-Hinweis

ORF2 bringt im „Weltjournal“ am Mittwoch um 22.30 Uhr einen Bericht über die aktuelle Lage in Ägypten - mehr dazu in tv.ORF.at.

UNO: Bereits 300 Tote

Die UNO-Menschenrechtskommissarin Navi Pillay hat Hinweise darauf, dass es bei den seit einer Woche andauernden Protesten mehr als die bisher angegebenen 150 Toten gegeben haben könnte. „Einige unbestätigte Berichte legen nahe, dass 300 Menschen getötet, mehr als 3.000 verletzt und Hunderte festgenommen worden sein könnten“, sagte Pillay am Dienstag in Genf. Sie sei angesichts der steigenden Opferzahl in Ägypten „zutiefst alarmiert“. Pillay forderte die ägyptischen Behörden auf sicherzustellen, dass Polizei und andere Sicherheitskräfte „den Einsatz von Gewalt vermeiden“.

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