Vom „Lehmann“ und Notizbüchern
Die Wienbibliothek im Rathaus hat sämtliche Jahrgänge von Lehmanns Wiener Adressbüchern von 1859 bis 1942 digitalisiert und kostenlos abrufbar ins Netz gestellt. Zur dazugehörigen Ausstellung sind zwei Bücher erschienen, die exemplarisch zeigen, wie Wissenschaftler aus nüchternen Adressdaten sowohl große geschichtliche Verwerfungen als auch individuelle Schicksale rekonstruieren.
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Die umfangreichere Publikation von beiden ist unter dem Titel „Die Vermessung Wiens“ erschienen. „Das vorliegende Buch soll die hervorragende Qualität der Adressbücher als historische Quelle etablieren und sie von verschiedenen Seiten beleuchten“, schreiben die Herausgeber Sylvia Mattl-Wurm und Alfred Pfoser im Vorwort.
„Lehmann’s Allgemeiner Wohnungs-Anzeiger“ ist eine ausgiebige Quelle, weil in ihm nicht nur die Adressen der Wiener verzeichnet sind, sondern auch Daten zum öffentlichen Verkehr und Stadtpläne - von der Werbung für jeweils zeitgenössische Produkte und Dienstleistungen ganz zu schweigen. Der „Lehmann“-Werbespruch „Ein Blick - und ich weiß alles“ könnte genauso gut von Google stammen.
Spuren des Verschwindens
Die Daten im „Lehmann“ sind Spuren, die zuweilen auf schreckliche Vorgänge verweisen. Birgit Johler nimmt die Ausgabe von 1938 als Ausgangspunkt für Recherchen nach jüdischen Bürgern, die von den Nazis vertrieben oder ermordet wurden. Ab 1939 mussten jüdische Frauen mit „deutschem“ Vornamen zusätzlich den Namen „Sara“ tragen - auch im „Lehmann“.
Es lässt sich anhand der Verzeichnisse nachvollziehen, wie die Wohnungen vertriebener und ermordeter Juden von Günstlingen des Regimes bezogen wurden. 1941 mussten die Juden ganz aus dem Adressbuch verschwinden, auf die Kennzeichnung erfolgte die „Ausklammerung“, wie Johler es formuliert.
Rudi Palla geht in seinem Beitrag auf einige Beispiele „verschwundener Arbeit“ ein und stellt Berufe wie den Federnschmücker, den Lebzelter und den Mandolettibäcker vor. Der Leser lernt an dieser Stelle auch, dass der Beruf des Hutmachers nicht ungefährlich war, die verwendeten Tierfelle wurden mit einer Beize behandelt, in der Quecksilber und Arsen enthalten waren.
Zwischenraum Notizbuch
Als Kontrastprogramm zum schweren offiziösen „Lehmann“ hat sich die Wienbibliothek in einer zweiten Publikation der privaten Adressbücher wichtiger Persönlichkeiten aus bildender Kunst, Literatur und Musik angenommen. Der Band „Andere Seiten“ versammelt Aufsätze über die Adresssammlungen etwa von Franz Lehar, Alexander Roda Roda und Max Reinhardt.
Marcel Atze, der gemeinsam mit Kyra Waldner den Band herausgegeben hat, bezeichnet das private Adressbuch in seiner Einleitung als „aussterbendes Medium“. Angesichts von Facebook sowie Bluetooth-synchronisierten Smartphones mit mehreren Gigabyte Speicherkapazität ist man beinahe versucht, ihm recht zu geben, läge da nicht der eigene kleine „Komposthaufen von Namen und Nummern“ - ein Spruch des von Atze zitierten schwedischen Journalisten Richard Swartz - neben dem Computer auf dem Schreibtisch.
Buchhinweise
Sylvia Mettl-Wurm, Alfred Pfoser (Hrsg.): Die Vermessung Wiens. Metroverlag, 344 Seiten, 25 Euro.
Marcel Atze, Kyra Waldner (Hrsg.): Andere Seiten. Metroverlag, 168 Seiten, 20 Euro.
Berührend die Geschichte, die Atze aus einem Eintrag des Schriftstellers Felix Braun über den Dichter Victor Maria Wittkowski entfaltet. Der vor den Nazis aus Europa geflohene Wittkowski hatte 1941 in Rio de Janeiro Bekanntschaft mit dem exilierten Schriftsteller Stefan Zweig geschlossen und erhielt von diesem Aufträge, die ihn über Wasser hielten. Als Zweig 1942 seinem Leben in Petropolis ein Ende setzte, hinterließ er Wittkowski einen Brief, in dem er ihn mit der Herausgabe seiner unveröffentlichten Werke betreute.
Die ausgezeichneten Vierfarbreproduktionen des liebevoll gestalteten Bands vermitteln sehr gut die Materialität der Notizbücher, die seinerzeit von ihren Besitzern so häufig konsultiert wurden wie von unsereins heute der Handybildschirm. Die Büchlein verraten den Charakter ihrer Besitzer, die einen sind schmal und sauber und ordentlich beschrieben; andere wiederum zerfledderte Blättersammlungen, von manischer Hand bekritzelt bis in die kleinsten Zwischenräume. Zwischenräume in der Geschichte sind es dann auch, welche die Lektüre von „Andere Seiten“ eröffnet.
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