Seelenkonskription und „Schlurfs“
Warum und mit welchen Techniken erfasst der Staat Menschen, Häuser und erschafft damit sein Territorium? Und wie gehen die betroffenen Bürger damit um? Bei der Recherche in alten Wiener Quellen stoßen Historiker auf erstaunliche Parallelen zu den heutigen Verhältnissen.
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Anlässlich der Ausstellung „Die Vermessung Wiens“ in der Wienbibliothek im Rathaus fand am Donnerstag und Freitag am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) ein begleitendes wissenschaftliches Symposion unter dem Titel „Mapping Vienna“ statt.
In ihrer Einleitung verwies Sylvia Mattl-Wurm, Direktorin der Wienbibliothek, auf das seit 2004 laufende Großprojekt der Digitalisierung sämtlicher Bände des Wiener Adressverzeichnisses „Lehmann“. Sämtliche Jahrgänge von 1859 bis 1942 seien nun vollständig ab Mikrofiche eingescannt worden und stünden seit Freitag kostenlos im Internet zur Verfügung - zwar nicht im durchsuchbaren Volltext, da die automatische Zeichenerkennung im Computer an den komplexen Vorlagen oft scheiterte, aber mit hilfreichen Schlagwörtern versehen.
Gezählte Seelen
Um ein Adressverzeichnis anfertigen zu können, mussten erst alle Häuser erfasst und durchnummeriert werden. Der Wiener Historiker Anton Tantner schilderte lebendig den Kampf der Obrigkeit mit den Bürgern, die ihre begehrten Ressourcen nicht ohne weiteres herausrücken wollten.
Bereits 1563 ließ der Hofquartiermeister ein Verzeichnis bürgerlicher Wiener Haushalte erstellen. Es galt, die Mitglieder des allzu umfangreichen Hofstaats unterzubringen. Die Bürger hatten freilich keine Lust, ihre Räumlichkeiten dem Personal Kaiser Maximilians II. zur Verfügung zu stellen. „Sie weigern sich, vermauern die Türen, entfernen Öfen und Fenster“, so Tantner.
Die „boshafte Volkmenge“
1770 jedoch wurde es ernst. Das Habsburgerreich wandelte sich unter Maria Theresia und Joseph II. zu einem zentralistischen Territorialstaat, der erst einmal inventarisiert werden musste. Zwei Jahre lang erfassten die Kommissionen wehrfähige Männer und nummerierten die Häuser. Der „boshaften Volkmenge“ erzählte die Obrigkeit, die Maßnahme diene der Verbrechensbekämpfung. Auch die Häuser des Adels wurden nicht ausgenommen, nur Kirchen und die Apostolische Nuntiatur blieben verschont - aber dort gab es ohnehin keine auszuhebenden Rekruten.
Interessanterweise habe das Argument der effizienteren Postzustellung durch schnellere Auffindbarkeit von Hausbewohnern bei der Einführung von Hausnummern in Österreich in der öffentlichen Diskussion keine Rolle gespielt, so Tantner.
Statistik als Machtinstrument
Der Historiker ist fasziniert von Nummern und Listen. „Laut dem Ethnologen Jack Goody liegt der Ursprung der Schrift in der Liste“, so Tantner, der auch den Zeitpunkt für entscheidend hält, ab dem die Nummern in den Inventaren auch auf Gegenständen und Häusern angebracht wurden. Eine spannende offene Forschungsfrage sei, ob das Habsburgerreich nicht schon vor der Großaktion 1770/71 über interne Listen mit Hausnummern verfügt habe. Er habe beispielsweise Hinweise auf eine „papierene Hausnummerierung“ durch die Behörden in Wien vor 1770 gefunden.
Mit der Statistik als Herrschaftswissen und Machtinstrument befasste sich auch der Historiker und Wirtschaftsinformatiker Andreas Weigl, Leiter des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Stadtgeschichtsforschung. Weigl wies darauf hin, dass Zählungen der männlichen wehrfähigen Bevölkerung schon im 15. Jahrhundert üblich seien.
Es sei mit den aggregierten Zahlen allerdings keine Politik gemacht worden. Erst ab dem späten 16. Jahrhundert habe sich das geändert, zur Seuchenprävention ließen sich die städtischen Obrigkeiten die Zahlen der Geburten und Todesfälle in aggregierter Form Monat für Monat aus den kirchlichen Matrikeln liefern.
Gewerbezählungen im 17. Jahrhundert
Der aufkommende Merkantilismus und Beschwerden der Zünfte über die große Zahl der nicht zunftpflichtigen Hofhandwerker in Wien führten dann zu ersten Gewerbezählungen im 17. Jahrhundert. Die erhobenen Zahlen wurden allerdings nicht veröffentlicht. Weigl: „Statistisches Wissen galt als Arkanwissen, es war nicht für die breite Öffentlichkeit bestimmt. Die Zensurkommission hat es verhindert, wenn Privatpersonen versucht haben, das Material zu publizieren.“
Veröffentlichungen von Zahlenmaterial blieben somit das seltene Werk gut vernetzter Einzelpersonen wie des Gelehrten Ignaz de Luca, der in den Behörden des josefinischen Wiens recherchierte. Moderne Volkszählungen gab es im Habsburgerreich erst ab 1869.
Politik mit Zahlen
Mit den scheinbar so nüchternen Zahlen wurde auch Politik gemacht. Die Verwaltung unter Karl Lueger ließ bei einer Volkszählung Anfang des 20. Jahrhunderts Tschechisch nicht als Umgangssprache gelten, was prompt zu Protesten böhmischer Mandatare im Reichsrat führte.
Im „roten Wien“ der Zwischenkriegszeit setzte Otto Neurath als Leiter des 1925 gegründeten Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseums auf die ansprechende grafische Darstellung statistischer Daten, um den Arbeitern die Leistungen der Stadtverwaltung besser nahezubringen. „Die Grafiken legitimierten die Sozialpolitik des roten Wiens“, so Weigl.
Sonderzone Neulerchenfeld
Mit Helmut Qualtingers Interpretation des „G’schupftn Ferdl“ von Gerhard Bronner stimmte der Historiker und Popkulturexperte Wolfgang Maderthaner, Geschäftsführer des Vereins für Geschichte der Arbeiterbewegung, das Publikum auf seine Beschreibung des Wiener Stadtteils Neulerchenfeld ein. „Neulerchenfeld wurde als urbane Gegenwelt zum Flair des Zentrums gesehen“, so Maderthaner, „es war eine Zwischenzone des Urbanen, die Konkretisierung des Niederen, zugleich als Topos des Wiener Wesens stets präsent und Quelle eines mündlich tradierten Kanons von Mythen und Zuweisungen.“
In dem Arbeiter- und Vergnügungsviertel - heute ein Teil des Bezirks Ottakring -, in dem sich zur vorletzten Jahrhundertwende an Wochenenden bis zu 16.000 Menschen in den zahlreichen Wirtshäusern drängten, blühten Prostitution und Kleinkriminalität. Am 17. September 1911 kam es zu einer offenen blutigen Revolte von Jugendbanden, die außer Kontrolle geriet und von den Behörden erst nach Stunden niedergekämpft werden konnte.
„Es war ein Aufstand gegen die Teuerung, gegen die schlechten Lebensbedingungen und die kalte Ratio der Moderne“, so Maderthaner. Auch am 15. Juli 1927 brach in Neulerchenfeld ein legendärer Aufstand aus, mit Schießereien und Überfällen auf die Polizei, diesmal brauchte der Staat zwei Tage, um ihn niederzuschlagen, die Aufständischen hatten großen Rückhalt in der Bevölkerung des Quartiers.
Abgesteckte Territorien
Zur Nazi-Zeit galt Neulerchenfeld als Hochburg der „Schlurfs“, Jugendlicher aus der Arbeiterklasse, die sich dem Konformitätsdruck der Hitlerjugend widersetzten, verbotene Swing- und Jazzmusik hörten und sich mit den Nazis prügelten. Nach dem Krieg, so Maderthaner, übernahmen die „Halbstarken“ die Szene, sie organisierten sich in informellen Jugendgangs, den „Platten“.
Ruhiger sei es erst in den 1970er und 1980er Jahren geworden, als die Maßnahmen des Wohlfahrtsstaates griffen. Maderthaner: „Die territoriale Inbesitznahme ging zurück.“ Seit den 1990er Jahren sei unter den Vorzeichen der Globalisierung und neuer Migrationsströme wieder eine neue Territorialisierung festzustellen. Das alte Spiel von Ausweichmanövern und Kontrollen zwischen informellen Gruppen und Staatsmacht wird auf absehbare Zeit weitergehen.
Günter Hack, ORF.at
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