„Jahr der verpassten Chancen“
Am 12. Jänner 2010 hat ein Beben der Stärke 7,1 Port-au-Prince und die gesamte Hauptstadtregion zerstört. Binnen weniger Sekunden starben in Haiti Hunderttausende Menschen. Was folgte, war eine beispiellose internationale Hilfsaktion. Ein Jahr danach wird mit Blick auf die Trümmerfelder und Zeltstädte aber deutlich: Von einer Normalisierung ist der Karibik-Staat nach wie vor weit entfernt.
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Von einem staatlich organisierten Wiederaufbau ist demnach auch zwölf Monate nach dem Beben kaum etwas zu sehen. Die bisher aus Port-au-Prince geschafften Trümmer türmen sich entlang der Ausfallstraßen. Da schweres Räumgerät in Haitis Hauptstadt bis heute Mangelware ist, zeigte sich zuletzt das Planungsministerium des Landes mehr als pessimistisch: Die vollständige Räumung würde mit der vorhandenen Gerätschaft weitere zehn Jahre dauern.

Reuters/Eduardo Munoz
Bild mit Symbolkraft: Der Präsidentenpalast liegt nach wie vor in Trümmern.
Neben der Beseitigung der Überreste von über 100.000 vollständig eingestürzten Häusern sind laut dem Ministerium für Tiefbau, Transport und Kommunikation weitere 208.000 Gebäude nicht mehr zu retten und müssen abgerissen werden. Als sichtbares Zeichen prangen auf den Ruinen in roter Farbe mit „MTPTC“ die Buchstaben des Ministeriums. Der Großteil der Opfer wird zudem nicht in den zahllosen Massengräbern, sondern weiterhin unter den Trümmern vermutet.
Regierungschef Jean-Max Bellerive gab die Zahl der Toten der Katastrophe mit 316.000 an. 350.000 Menschen seien bei dem Beben verletzt worden, mehr als 1,5 Millionen weitere verloren demnach ihr Obdach. Die UNO schätzt die Zahl der Toten dagegen auf mehr als 220.000 und geht von rund 1,2 Millionen Obdachlosen aus.
Weiter Ansturm auf Zeltstädte von Port-au-Prince
Trotz des beispiellosen humanitären Einsatzes, der nach dem Beben in Gang gesetzt wurde, bleibt aber auch die Lage der Überlebenden weiter dramatisch. Wie die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen in einer Jahresbilanz berichtete, leben die Haitianer inmitten einer landesweiten Choleraepidemie weiterhin unter schrecklichen Lebensbedingungen. Es gebe weiter Probleme bei der Versorgung mit Unterkünften und Wasser sowie der medizinischen Hilfe.
UNO: 810.000 in Zeltstädten
Nach Angaben der UNO leben in Haiti 810.000 Menschen in insgesamt 1.150 provisorischen Einrichtungen.
Aus diesem Grund kommen nach wie vor täglich neue Flüchtlinge in die Zeltlager von Port-au-Prince, wo dank internationaler Finanzhilfe zumindest eine Grundversorgung garantiert werden kann. Nach Angaben der Entwicklungsorganisation Oxfam gibt es in Port-au-Prince neben den Bewohnern der Zeltstädte noch „Hunderttausende andere, die in den Ruinen der Stadt leben“. Von Oxfam ist in diesem Zusammenhang von einem „Jahr der verpassten Chancen“ die Rede, da bisher erst fünf Prozent des Schutts weggeräumt und nur 15 Prozent der benötigten Übergangsunterkünfte gebaut wurde.

Reuters/Eduardo Munoz
Ein Flüchtlingslager vor den Toren von Port-au-Prince
Unterdessen orten die Vereinten Nationen (UNO) und die Internationale Organisation für Migration (IOM) eine leichte Entspannung, da mittlerweile auch viele Menschen die Camps „aus vielen Gründen“ wieder verlassen würden. Mehr als 200.000 Bebenopfer konnte laut IOM-Angaben bisher etwa dank der internationalen Hilfe für den Häuserbau geholfen werden.
Kritik an unkoordinierter Hilfe
Oxfam führt seine Kritik auf eine schlechte Abstimmung zwischen den Geberländern und mangelnde Entscheidungsstärke der haitianischen Regierung zurück. Von anderer Seite wird zudem die unkoordinierte Vorgangsweise der mittlerweile rund 600 an Ort und Stelle tätigen Hilfsorganisationen kritisiert, von denen lediglich ein Bruchteil mit den Regierungsbehörden zusammenarbeitet.
„Hilfe, die ankommt“
Nachbar in Not erinnert zum Jahrestag des Bebens daran, dass noch immer viel zu viele Menschen in Haiti auf Nothilfe angewiesen sind. Das dürfe aber nicht den Blick auf die geleistete Hilfe verstellen, „die Hunderttausenden Menschen in Haiti das Überleben und die Zukunft sichert“. Betont wurde zudem, dass es sich bei den bisher gespendeten 14,5 Millionen Euro um Hilfe handle, „die ankommt“ - mehr dazu in nachbarinnot.ORF.at.
Die Karibische Gemeinschaft (CARICOM) sprach zuletzt sogar von einer Gefahr für die demokratischen Strukturen des Landes und forderte von der UNO eine bessere Reglementierung der Arbeit der in Haiti tätigen NGOs. Von der UNO wurde aber auch das Ausbleiben der zugesagten Hilfsgelder bemängelt. Der Chef der UNO-Mission in Haiti (MINUSTAH), Edmond Mulet, betont zudem bei jeder Gelegenheit, dass in erster Linie „eine demokratisch legitimierte Regierung“ ausschlaggebend für den Wiederaufbau des Landes sei.
Dafür sollten auch Unregelmäßigkeiten bei den Wahlen in Kauf genommen werden. Doch das Vorhaben, die politischen Dinge zu ordnen, stockte. Die Wahlen im vergangenen November gerieten zum Chaos und stürzten das Land in eine Staatskrise. Internationale Experten überprüfen derzeit die Wahlergebnisse, erst danach soll der Termin für eine Stichwahl festgelegt werden.
„Große Sorge“
Die politische Instabilität in Haiti behindert nach Einschätzung der EU die internationale Hilfe nach dem Erdbeben vor einem Jahr. EU-Außenministerin Catherine Ashton und die für Entwicklung und humanitäre Hilfe zuständigen Kommissare Andris Piebalgs und Kristalina Georgievea zeigten sich in „großer Sorge“ über die Lage in dem Karibik-Staat. „Die derzeitige Instabilität verhindert, dass die humanitäre Hilfe der EU bei den Bedürftigen ankommt, und verlangsamt und erschwert den Wiederaufbauprozess“, hieß es in einer gemeinsamen Erklärung zum Jahrestag.

Reuters/Felix Evens
Bill Clinton bei der Wiedereröffnung des Marche de Fer (Eisenmarkt) in Port-au-Prince
Zum ersten Jahrestag äußerte sich auch der frühere US-Präsident Bill Clinton „frustriert“ über das Tempo des Wiederaufbaus. Während eines Besuchs in Port-au-Prince sagte der als Koordinator für die internationale Hilfe tätige Clinton, niemand sei mehr frustriert als er über die nur langsamen Fortschritte. Zugleich nannte er es ermutigend, dass in den vergangenen vier Monaten endlich eine Beschleunigung des Wiederaufbaus zu bemerken gewesen sei.
Nationaler Trauertag
Haitis Regierung rief den 12. Jänner zum „Nationalen Tag der Trauer und Besinnung“ aus, um an die Opfer des verheerenden Erdbebens vor einem Jahr zu erinnern. Im ganzen Land bleiben am Mittwoch laut einem Regierungsdekret Behörden, Schulen, Geschäfte und Fabriken geschlossen. Die Flaggen vor öffentlichen Gebäuden wurden auf Halbmast gesetzt. Zur Erinnerung an die Bebentoten soll zudem ein Denkmal in der Nähe des zerstörten Präsidentenpalastes errichtet werden.
Das ärmste Land der westlichen Hemisphäre war am 12. Jänner 2010 von einem Erdbeben der Stärke 7,1 erschüttert worden. Nach UNO-Schätzungen starben bei dem Beben zwischen 250.000 und 300.000 Menschen. In Haiti selbst wird die Totenzahl auf bis zu 500.000 geschätzt. Im Oktober brach zudem eine Choleraepidemie aus, an der bislang mehr als 3.600 Menschen starben - mehr dazu in oe1.orf.at.
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