Interimspräsident will vermitteln
Nach der Flucht des langjährigen Machthabers Zine el-Abidine Ben Ali ins Exil wird geplündert und gebrandschatzt. Kurz nach der Vereidigung des Parlamentsvorsitzenden Fouad Mebazaa als Übergangspräsident lieferten sich Soldaten und Polizisten am Samstag ein Feuergefecht mit Angreifern.
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Journalisten beobachteten, wie zwei Menschen nach dem Schusswechsel am Boden lagen. Ob sie tot oder verletzt waren, blieb zunächst unklar. Auf den Dächern des Innenministeriums wurden Scharfschützen gesehen. In dem Mittelmeerland gibt es seit der Flucht von Staatschef Zine el-Abidine Ben Ali nach Saudi-Arabien am Freitag zahlreiche Attacken gegen öffentliche Gebäude und Einrichtungen. In dem nordafrikanischen Urlaubsland herrscht der Ausnahmezustand.

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Auch Supermärkte waren Ziel der Angriffe.
Hunderte saßen auf Flughafen fest
Wegen der nächtlichen Ausgangssperre saßen am Samstagabend Hunderte Menschen am Flughafen von Tunis fest. „Die Lage ist angespannt, niemand darf den Flughafen verlassen“, sagte ein Soldat. Den Restaurants ging das Essen aus, es bildeten sich lange Schlangen, um die letzten Chips und Kekse zu kaufen. Überall bildeten sich kleine Lager, Reisende versuchten, auf dem Boden zu schlafen und deckten sich mit Kleidungsstücken zu. Eine Familie bettete ihr Kleinkind in einen geöffneten Koffer.
Bis zu 60 Tote bei Gefängnisbrand
Bei einem Gefängnisbrand in Monastir kamen am Samstag nach Angaben von Ärzten bis zu 60 Menschen ums Leben. Zahlreiche weitere Menschen erlitten bei dem Feuer in dem auch bei Touristen beliebten Küstenort schwere Verbrennungen, wie aus Krankenhauskreisen verlautete. Nach ersten Erkenntnissen hatten Häftlinge ihre Matratzen in Brand gesteckt.
Die Flammen hätten dann schnell auf das gesamte Gebäude übergegriffen. Als die Insassen zu fliehen versuchten, eröffneten Wärter nach Augenzeugenberichten das Feuer. Mehrere Häftlinge seien an Schusswunden gestorben, andere verbrannt, hieß es. Ein Gerichtsmediziner sagte hingegen, einer ersten Untersuchung zufolge seien sämtliche Opfer am Feuer selbst oder durch das Einatmen des Rauches gestorben.
Hunderte Elitepolizisten festgenommen
In einer dramatischen Entwicklung nahmen tunesische Soldaten indes Hunderte Elitepolizisten des geflohenen Präsidenten Zine el Abidine Ben Ali fest. Das wurde am Samstag aus Sicherheitskreisen bekannt. Ihnen wird vorgeworfen, für die gewaltsame Eskalation bei den Massendemonstrationen der vergangenen Tage in Tunesien verantwortlich gewesen zu sein. Mehrere von ihnen stehen zudem im Verdacht, an Plünderungen und Zerstörungen beteiligt gewesen zu sein.

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Vor allem in Tunis kam es immer wieder zu Plünderungen von Geschäften.
Ben Ali nach Saudi-Arabien geflohen
Unterdessen wurde nach nur einem Tag ein neuer Übergangspräsident ernannt. Nach der Flucht des abgedankten Präsidenten ins saudische Exil hatte zunächst Ministerpräsident Mohamed Ghannouchi am Freitag die Amtsgeschäfte übernommen. Am Samstag ernannte der Verfassungsrat Foued Mbazaa zum neuen Interimspräsidenten. Die Ernennung des bisherigen Parlamentspräsidenten wurde im Staatsfernsehen bekanntgegeben. Mbazaa soll nun Neuwahlen vorbereiten.

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Auch der Palast des Schwagers des ehemaligen Präsidenten Zine el Abidine Ben Ali wurde von den Plünderern nicht verschont.
Zustimmung zu Koalitionsregierung
Der Übergangspräsident hat in einer ersten Amtshandlung Ghannouchi mit der Bildung einer „Regierung der nationalen Einheit“ beauftragt. Ghannouchi hatte zuvor mit Vertretern der Opposition gesprochen. Der Premier habe dem Vorschlag zugestimmt, eine Koalitionsregierung zu bilden, sagte der führende Oppositionspolitiker Mustapha Ben Jaafar nach der Unterredung mit dem Regierungschef.
„Morgen wird es ein weiteres Treffen geben mit dem Ziel, das Land aus dieser Situation herauszubringen und wirkliche Reformen zu erreichen“, erklärte der Vorsitzende der vom Regime zugelassenen „Union für Freiheit und Arbeit“. Die Ergebnisse der Beratungen würden am Sonntag bekanntgegeben. Zu dem Treffen war unter anderen auch der Vorsitzende der ebenfalls legalen Demokratischen Fortschrittspartei (PDP), der Anwalt Najib Chebbi, eingeladen.
Chef der größten islamistischen Partei kehrt zurück
Auch der Chef der größten islamistischen Partei kündigte seine Rückkehr aus dem Londoner Exil an. Die politischen Parteien müssten nun die Diktatur durch eine Demokratie ersetzen, dazu sei er bereit, teilte Rached Ghannouchi von der verbotenen Partei Ennahdha am Samstag telefonisch der Nachrichtenagentur AFP mit. „Ich bereite meine Rückkehr vor“, sagte der 69-Jährige weiter, ohne jedoch einen konkreten Termin zu nennen.
Er stehe bereits in Kontakt mit anderen Oppositionsführern und sei bereit, sich an einer von Übergangspräsident Foued Mebazaa vorgeschlagenen Regierung der nationalen Einheit zu beteiligen, sagte Ghannouchi weiter. Er betonte, seine Partei stelle keine „militante Bedrohung“ dar, sie sei von ihrer Ausrichtung eher mit der türkischen Regierungspartei AKP zu vergleichen.

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Soldaten auf einem Dach in der Innenstadt von Tunis.
Kein Asyl für Ben Alis Familie in Frankreich
Die französische Regierung hat unterdessen zu verstehen gegeben, dass sie Angehörigen des nach Saudi-Arabien geflüchteten tunesischen Präsidenten keine Zuflucht gewähren werde. Zuvor war bekannt geworden, dass sich Familienmitglieder des Präsidenten, darunter seine 24-jährige Tochter Nesrinen und mindestens ein Enkel, seit Donnerstag im Hotel des Vergnügungsparks Disneyland Paris aufhielten.
Diese hätten keinen Grund zu bleiben, sagte Regierungssprecher Francois Baroin am Samstag. „Diese Familie hat keinen Wunsch geäußert, auf französischem Boden zu bleiben und wird ihn wieder verlassen“, versicherte der Sprecher weiter. Laut einem Vertreter des Hotels hat die Gruppe den Vergnügungspark am Nachmittag verlassen; niemand wisse, wo sie jetzt sei.
Ausnahmezustand vor Flucht verhängt
Ben Ali hatte vor seiner Flucht den Ausnahmezustand verhängt und die Macht Ministerpräsident Ghannouchi als Interimspräsidenten übertragen. Laut Verfassung ist das jedoch nur für eine begrenzte Zeit möglich. Sie sieht vor, dass der Vorsitzende des Parlaments in das Amt des Präsidenten treten soll. Oppositionspolitiker hatten bereits kritisiert, dass die Ernennung Ghannouchis verfassungsrechtlich bedenklich sei.
Obwohl Ghannouchi als gemäßigt sowie als guter Vermittler gilt, belastet ihn nach Ansicht vieler Tunesier seine bisherige Nähe zur alten Regierung. Ghannouchi hatte während der Proteste zudem das brutale Vorgehen des Staates gegen die Demonstranten verteidigt.
Gaddafi bedauert Sturz Ben Alis
Der libysche Revolutionsführer Muammar Gaddafi bedauert den Sturz Ben Alis. Der nach Saudi-Arabien geflohene Machthaber sei „nach wie vor rechtmäßiger Präsident“ des Nachbarlandes, es gebe keinen besseren als ihn, sagte Gaddafi am Samstagabend in einer von den Medien übertragenen „Rede an das tunesische Volk“. Gleichzeitig schlug Gaddafi dem Nachbarland vor, sein Modell einer „direkten Demokratie“ zu übernehmen.
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