„Keine Überraschung“
Auf Demonstranten schießende Sicherheitskräfte, brennende Polizeiautos und junge Männer, die sich aus Verzweiflung über mangelnde Zukunftsaussichten das Leben nehmen. Seit Wochen wird das seit 1987 von Zine El Abidine Ben Ali autoritär regierte Tunesien von wütenden Bürgerprotesten heimgesucht.
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Ausgangspunkt der gewalttätigen Auseinandersetzungen war die Verzweiflungstat eines Hochschulabsolventen: Seit sich Mitte Dezember der arbeitslose Akademiker auf einem Marktplatz selbst anzündete, bringen zahllose vor allem junge Menschen ihren Unmut über Perspektivlosigkeit bei Demonstrationen zum Ausdruck.
Seitdem kommt es immer wieder zu Streiks und Demonstrationen. Die Protestwelle gegen das autokratische Regime wurde in erster Linie von arbeitslosen Studienabgängern in Gang gesetzt. In Frankreich, der Schweiz und Kanada haben zudem Solidaritätskundgebungen von Auslandstunesiern in mehreren Städten, darunter Paris, Marseille, Lyon, Genf und Montreal, stattgefunden.
Die Regierung reagierte auf die Proteste zunächst mit harter Hand. Bereits mehrere Menschen sollen bei Ausschreitungen von Sicherheitskräften getötet worden sein. Ben Ali deutete zuletzt aber ein erstes Einlenken an. Gleichzeitig wurde die Armee in der Hauptstadt Tunis und weiteren zentralen Punkten des Landes stationiert.
„Ben Ali weiß, wie man Investoren behandelt“
Für den mit harter Hand regierenden Staatschef stellen die bisher schwersten Unruhen seiner Amtszeit nach Ansicht von Beobachtern einen herben Rückschlag dar. Ben Ali hatte es zuletzt geschafft, Tunesien als nordafrikanischen Vorzeigestaat zu positionieren und ausländische Investoren ins Land zu locken.
Die soziale Stabilität gehörte neben hochqualifizierten Arbeitskräften und der guten Infrastruktur zu den Stärken. Die auch von Touristen geschätzten Sandstrände mit türkisblauem Wasser auf Djerba spielten zuletzt nur noch eine Nebenrolle. Der Tourismus trägt lediglich noch einen einstelligen Prozentanteil zum Bruttoinlandsprodukt bei. „Ben Ali weiß, wie man Investoren richtig behandelt“, sagte ein Diplomat in Tunis.
16 Prozent Arbeitslose
Im Umgang mit der eigenen Bevölkerung und vor allem mit Kritikern ist der 74-Jährige nicht so charmant. Menschenrechte wie Meinungs- und Versammlungsfreiheit werden oft missachtet, Oppositionelle an einem fairen Wahlkampf gehindert und unliebsame Journalisten notfalls ins Gefängnis gesteckt. Dem Präsidentenclan wirft die Bevölkerung hemmungslose Bereicherung und Korruption vor. Das ist keine gute Mischung bei einer Arbeitslosenquote von zuletzt 16 Prozent.
Gefährlich sind die Entwicklungen für Ben Ali vor allem deswegen, weil es die gut gebildeten Tunesier sind, die auf die Straße gehen. Rund die Hälfte aller Universitätsabsolventen findet in den ersten Jahren nach dem Abschluss keinen Job, der ihrer Ausbildung entspricht. Experten schätzen, dass es mindestens sechs Prozent Wirtschaftswachstum bräuchte, um allen Absolventen eines Jahrgangs eine Chance zu geben. Im vergangen Jahr lag es Prognosen zufolge bei rund vier Prozent.
Auch der junge Mann, der sich auf dem Marktplatz anzündete, gehörte zur Gruppe der Hochqualifizierten. Mangels Arbeit hatte er versucht, sich als Obst- und Gemüsehändler durchzuschlagen. Als Sicherheitskräfte zum wiederholten Mal seine Ware beschlagnahmten, weil er keine Lizenz besaß, sah er keinen Ausweg mehr.
Bevorzugte Partnerschaft mit EU angestrebt
Internationaler Druck auf Ben Ali ist bisher ausgeblieben. Die ehemalige Kolonialmacht Frankreich will sich nicht einmischen, auch aus anderen Staaten sind kaum kritische Stimmen zu hören. „Man ist froh, dass islamistische Extremisten keine Rolle spielen, und man schweigt“, sagte ein politischer Beobachter in Tunis. Hoffnung macht allerdings die bevorzugte Partnerschaft, die Tunesien mit der EU anstrebt. „Die wird es nicht auf dem Silbertablett geben“, heißt es in Diplomatenkreisen.
Unruhen auch in Algerien
Viele junge Menschen im Land trauen dem autoritären Ben Ali allerdings keinen grundlegenden Kurswechsel mehr zu. „Wenn ich nach Deutschland gehen könnte, wäre ich sofort weg“, sagte der 24-jährige Chemiestudent Saif aus Tunis.

AP
Auch in Algier kam es zu schweren Ausschreitungen mit der Polizei.
Das sehen viele Jugendliche im benachbarten Algerien ähnlich. Auch dort ist es in den vergangenen Tagen zu heftigen Ausschreitungen mit der Polizei gekommen, die ebenfalls mehrere Todesopfer forderten. Laut Experten könnte auch Marokko von ähnlichen Protesten erfasst werden.
„Pulverfässer, die explodieren können“
Die französische Regionalzeitung „Dernieres Nouvelles d’Alsace“ (Freitag-Ausgabe) spricht von einem „Pulverfass Unzufriedenheit“. Autoritäre Regimes bildeten sich demnach ein, „alles kontrollieren zu können, doch durch diese soziale Bewegung werden sie völlig überfordert“. Die Generation der Demonstranten protestiert demnach in Tunesien und Algerien gegen fehlende Zukunftsperspektiven: „Arbeitslosigkeit und fehlende Anerkennung für junge Menschen sind heute Pulverfässer, die explodieren können.“
Laut der französischen Zeitung „Le Monde“ (Freitag-Ausgabe) seien die Vorgänge in Tunesien, „wo die Partei des Präsidenten Ben Ali absolut alles kontrolliert und der Unzufriedenheit nicht den geringsten Raum lässt“, jedenfalls alles andere als eine Überraschung. Unter dem Vorwand, gegen islamischen Extremismus anzukämpfen, würden der Zeitung zufolge in Tunesien Medien, Gewerkschaften und Opposition rücksichtslos unterdrückt. Verwiesen wurde zudem auf die von WikiLeaks veröffentlichten US-Depeschen, in denen das tunesische Herrschaftssystem als „Mafia-ähnlich“ beurteilt wurde.
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