Der Blick durch die Fakirbrille
Es ist eine kleine Sensation, was abseits von Wien und der Vienna Art Week unbemerkt in Krems über die Bühne geht: Am Sonntag wird in der Kunsthalle die größte, konzentrierteste Ausstellung des Nouveau Realisme eröffnet, die jemals in Österreich zu sehen war. Anlass ist das fünfzigjährige Jubiläum des Manifests der Bewegung.
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Österreich ist für den Nouveau Realisme zum Mekka geworden, seit Daniel Spoerri in Hadersdorf am Kamp, also in der Nähe von Krems, seine Zelte aufgeschlagen hat, samt wunderschönem Ausstellungshaus und dazugehörigem Restaurant. Ihm ist im Rahmen der Schau in Krems eine Sonderausstellung gewidmet.

ORF.at/Kaja Stepien
Spoerri vor „Vue cubiste de la chambre“, 1962: „Das war eine Scheißarbeit.“
Manche Künstler werden kleiner, wenn man sie trifft. Andere werden größer. Spoerri wächst, während er durch die Ausstellung führt. Seine Ausstrahlung, die Anekdoten, die er bereitwillig zum Besten gibt, seine liebevoll-respektlose Art, über Künstlerkollegen zu sprechen - man erliegt dem Humor und dem Charme des 80-Jährigen. Mit ein bisschen Glück kann man ihn übrigens in Hadersdorf antreffen, wenn er gerade durch die Gänge oder den Garten seines Museums streift.
Die sich den Kuchen aufteilen
Spoerris Nouveau Realisme ist eine Kunstgattung, die einige berühmte Proponenten hervorgebracht hat - Yves Klein, Niki de Saint Phalle, Cesar, Armand, Daniel Spoerri, allesamt heute große Namen auf dem Kunstmarkt. Trotzdem ist die Bewegung weit weniger bekannt als die Pop-Art, die (auch) aus dem Fundus des Nouveau Realisme schöpfte. Schon deshalb ist die Schau etwas Besonderes - weil sie Augenmerk auf die Gruppe als solche legt.
Spoerri sagt, bei der Unterzeichnung des Manifests sei es darum gegangen, einen Kuchen untereinander aufzuteilen. Die Gruppe sei gleichzeitig divers und homogen gewesen. Homogen, weil es um eine gemeinsame Sache ging – die Versöhnung des Alltags mit der Kunst. Divers, weil sich jeder von ihnen anderer künstlerischer Mittel bediente.
Von der Kunst erschlagen - buchstäblich
Der aus der Schweiz stammende Spoerri ist bis heute nicht zuletzt für seine damaligen Fallenbilder bekannnt. So konservierte er beispielsweise Tischplatten samt den daraufstehenden Resten von Gelagen, klebte alles fest und hängte es an die Wand. In Krems zeigt er neben vielen anderen Kunstwerken die Fotocollage „Vue cubiste de la chambre“. Spoerri lebte mit seiner Frau in einem Hotelzimmer. Die Anekdote will es, dass seine Frau eines Tages nach Hause kam und ihre gesamte Aussteuer des Elternhauses - jede Menge Hausrat - an den Wänden und an der Decke montiert vorfand. Spoerri erzählte nicht, woran die Ehe scheiterte, aber vielleicht hatte es ja damit zu tun. Einmal wurde Spoerri im Bett beinahe von einer herunterfallenden Skulptur erschlagen.
„Es ist aber ein Galgenhumor“
Seine Frau jedenfalls, eine angehende Fotografin, lichtetet das ganze chaotische Hotelzimmer in Einzelaufnahmen ab. Spoerri setzte sie zu einem großen Bild zusammen: „Eine Scheißarbeit war das“, erzählt er und unterstreicht gleichzeitig, wie oft das Prinzip des Werks später kopiert wurde. Humor spielt in Spoerris Werk eine große Rolle: die Fleischwolfarmee mit Helmen, darauf Hirschgeweihe und ähnliches Imponierzeug („Die Geschworenen“); eine Fakirbrille, die innen mit Nägeln versehen ist („Optique Moderne“ - „man kann Kunst nicht nur an die Wand hängen, man kann sie auch direkt vor dem Auge tragen“). Spoerri sagt im Gespräch mit ORF.at: „Es ist aber ein Galgenhumor. Einfach nur lustig ist meine Kunst nie.“

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Das Manifest: Nouveaux Realistes (Arman, Dufrene, Hains, Klein, Raysse, Restany, Spoerri, Tinguely, Villegle), 27. Oktober 1960
Nur lustig dürfte auch das programmatische, fast schon konspirative Treffen in der Wohnung von Yves Klein in Paris nicht abgelaufen sein, am 27. Oktober 1960. Einige sollten und wollten eigentlich mitmachen, kamen aber nicht oder zu spät (Cesar, Christo und Niki de Saint Phalle). Anderen wiederum wurde die Teilnahme versagt. Schließlich fanden sich neun Unterschriften unter dem Manifest. Am Ende waren 13 Mitglieder offiziell dem Nouveau Realisme zugehörig.
Die Politik zerfetzen
Klein malte Bilder, später fast nur in Blau, während seiner Frühphase aber auch bunt, wie man in Krems sehen kann. 25 Kilo rosafarbenes Farbpigment liegt da auf einem Tisch. Ein paar Meter weiter dasselbe im obligatorischen Blau.
Es gab die „Affichisten“; Raymond Hains, Mimmo Rotella, Jacques Villegle. Sie rissen Plakate von den Wänden. Jeder hatte seine eigene Methode. Einmal wurden nur Hinterseiten von zerfetzten Plakaten zusammengeklebt, dann wieder ganz absichtsvoll Ausschnitte der Vorderseiten. Damals war schon die Methode für sich genommen ein Aufreger und wurde sofort als Kritik an den politischen Plakaten verstanden, die allerorten an den Mauern hingen. Manche der Collagen zeigten Ausrisse aus Werbungen und Zeitungen. Marilyn Monroe (Villegles „Merilyn“), Versatzstücke der Popwelt und der Konsumkultur und mitunter auch Kommentare auf den Nouveau Realisme (Villegles „Rue de la Perle“).
Niki de Saint Phalles „Schüsse auf den Vater“
Niki de Saint Phalle wurde später mit ihren Nanas zum Begriff - den dicken, bunten Frauenskulpturen. Davor beschoss sie mit Farbe gefüllte Gipsbeutel. „Eigentlich beschoss sie ihren Vater, wenn man das so psychologisch deuten darf“, sagt Spoerri mit einem Schmunzeln. Wurde ein roter Farbsack beschossen, spritze es Farbe wie aus einem blutenden Herzen. Arman wiederum verarbeitete wie Spoerri Alltagsgegenstände. In Krems sind Gabelkunstwerke zu sehen und, schön knallig, in Harz eingelegte ausgedrückte Farbtuben.
Der Koffer des Nouveau Realisme
Spoerri wollte sie alle in einem Gesamtkunstwerk des Nouveau Realisme zusammenfassen: einem Koffer, der mobil war und von jedem der Gruppe ein bisschen etwas enthalten sollte. Die Präsentation in Köln wurde als performativer Event inszeniert. Spoerri schoss auf Niki de Saint Phalle. Irgendjemand hatte ein Schloss an dem Koffer angebracht und den Schlüssel weggeworfen, das dann vor Publikum aufgesägt werden musste. Dann wurde noch etwas vorgelesen.
Später forderte Tinguely den Koffer, den er gestaltet hatte, wieder zurück. Zu historisierend und kanonisierend sei die Sammlung. Überhaupt waren dann doch zu viele kratzborstige Individualisten an Bord. Ständig wurde gestritten, erzählt Spoerri, ob dieses oder jenes Kunstwerk denn noch Nouveau Realisme sei, wer nun zur Gruppe gehöre und wer nicht. Einer der Streithähne von damals habe ihn noch zwei Wochen vor seinem Tod angerufen, nur um festzustellen: „Jetzt haben wir unseren Konflikt begraben.“
Schon 1963 wurde der Nouveau Realisme von seinen ersten Vertretern für tot erklärt, 1970 dann ganz offiziell. Aber Spoerri beruhigt mit einem Augenzwinkern: „Ich bin ja noch da.“ Auch wenn er selbst längst andere Sachen macht als Fallenbilder, Niki de Saint Phalle nicht mehr auf „ihren Vater“ schießt und das Zerreißen von Plakaten eine Generation von Künstlern übernommen hat, die sich nicht wirklich auf den neuen Realismus der 60er Jahre berufen.
Ausstellungshinweis
Nouveau Realisme und Daniel Spoerri, von 21. November 2010 bis 20. Februar 2011, Kunsthalle Krems, täglich 10.00 bis 17.00 Uhr. Zur Daniel-Spoerri-Ausstellung ist ein Katalog (111 Seiten, 19,90 Euro) erschienen.
Der Verdienst des Nouveau Realisme bleibt, das Banner Marcel Duchamps (Ein Pissoir als Kunstwerk) hochgehalten zu haben, als das gerade nicht en vogue war und die Kunst aus einer fast schon esoterischen, abstrakten Spezialistenecke herausgeholt zu haben. Es muss befreiend gewesen sein, zu dieser Zeit Plakate zu zerreißen, Saufgelage festzukleben und auf Gipsbeutel zu ballern. Damit könnte man eigentlich wieder anfangen. Ein Besuch in Krems ist ansteckend.
Simon Hadler, ORF.at
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