Zwischen Wunsch und Wirklichkeit
Spätestens nach den deutlichen Worten des türkischen Botschafters in Österreich, Kadri Ecvet Tezcan, hat die Integrationsdebatte nach Deutschland auch Österreich erreicht. Vom „Sarrazin Österreichs“ war bei Tezcan bereits die Rede. In Deutschland hatte der frühere Bundesbankvorstand Thilo Sarrazin mit seinem - mittlerweile entschärften - Buch „Deutschland schafft sich ab“ für Aufregung gesorgt.
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Sarrazin sah Deutschland in Gefahr, weil er vielen Zuwanderern nicht nur mangelhafte Bildung, sondern auch geringere Intelligenz unterstellte. Tezcan wiederum kritisierte die Ausländerfeindlichkeit Österreichs und die gescheiterte Integrationspolitik: „Wenn ich der Generalsekretär der UNO, der OSZE oder der OPEC wäre, würde ich nicht hier bleiben.“ Gleichzeitig nahm er aber auch die in Österreich lebenden Türken nicht aus der Verantwortung. „Ich sage meinen Leuten immer: ‚Lernt Deutsch und haltet euch an die Regeln dieses Landes.’“
„Turko-islamische Kultur“
Die Debatte über misslungene Integration von Türken schwelt schon länger in Deutschland und schwappt immer wieder auf Österreich über. Der Thinktank European Stability Initiative (ESI) sammelte die Argumente der seit 2005 laufenden Diskussion und arbeitet an der im Internet mit Texten gefüllten „Great Debate“, die in den vergangenen Wochen einen neuen Höhepunkt erreichte. Den ersten Wendepunkt erlebte die Debatte 2005. Innerhalb der EU wurden mit großer Zustimmung die Verhandlungen für einen EU-Beitritt der Türkei aufgenommen.
Im selben Jahr sorgten in Deutschland der „Ehrenmord“ an Hatan Surucu und das vielzitierte Buch der türkischstämmigen Soziologin Necla Kelek, „Die fremde Braut“, für Aufsehen. Für Kelek war dieser „Ehrenmord“ kein Einzelfall, sondern Ausdruck einer „turko-islamischen Kultur“, die frauenfeindlich und gewalttätig ist: „In Deutschland wird von Reformen in der Türkei gesprochen, aber seit 1923 gab es dort keine so große Islamisierung wie jetzt“, betonte Kelek im September 2005. Sie zählte auch in den vergangenen Wochen zu den stärksten Unterstützern von Sarrazins Thesen.
Wie lässt sich Türkei in EU integrieren?
Die Integrationsdebatte und die Diskussion über den Alltag von Türken in Deutschland und Österreich vermischte sich zusehends mit der Diskussion über einen EU-Beitritt der Türkei, mit einer Frage im Hintergrund, sagte ESI-Chef Gerald Knaus gegenüber ORF.at: „Wenn sich die Türken in Europa nicht integrieren können, wie kann man dann die Türkei in Europa integrieren?“
Sähe man die Türkei als ein europäisches Land mit normalen Problemen und einer ähnlichen Entwicklung der Alltagskultur und Demokratie, wäre die Vorstellung eines EU-Beitritts weniger besorgniserregend, als wenn man davon ausgeht, dass es eine andere Zivilisation mit anderem Werteverständnis ist, ist Knaus überzeugt.
Ende von Multikulti?
Stattdessen dominieren Themen wie Islamisierung, „Ehrenmorde“ und Unterdrückung der Frau die öffentliche Diskussion über die Türkei. Auch wenn der türkische Premier Recep Tayyip Erdogan nicht müde wird, für die Türkei als „demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat“ zu werben, um die Vorwürfe der Islamisierung zu zerstreuen. Es ist weiterhin die Rede von Parallelgesellschaften und vom Scheitern von Multikulti.
„Das Grundproblem an der Debatte mit Sarrazin, Kelek & Co. ist, dass hier grundsätzlich falsche Aussagen getroffen werden, dass sich die Türkei zurückentwickle. Erklärt wird das damit, dass sich die türkische Kultur nicht weiterentwickelt“, analysiert Knaus die Problematik. Auch wenn es noch in vielen Bereichen Nachholbedarf gebe, hat sich laut Knaus die Türkei in den vergangenen zehn Jahren enorm weiterentwickelt - auch bei der Stellung der Frau.
„Wie im finsteren Mittelalter“
Zwar gab es zwischen 2001 und 2008 nach offiziellen Zahlen in der Türkei fast 300 „Ehrenmorde“ an Frauen. Geduldet werden diese aber nicht mehr. Knaus: „Seit fünf Jahren läuft eine breite Kampagne gegen Ehrenmorde. Es gibt eine eigene Kommission im Parlament und schärfere Strafmaßnahmen dagegen.“ Nach wie vor gibt es bei der Gleichstellung der Frau einiges nachzuholen. Die Signale der vergangenen Jahre sind aber eindeutig: 2001 wurde das Zivilgesetzbuch reformiert. Der Mann ist seither nicht mehr offiziell Oberhaupt der Familie, die Rechte der Frau bei einer Scheidung wurden erweitert. Mit der Strafrechtsreform 2004 wurde Vergewaltigung ein Straftatbestand.
Die Gleichheit von Mann und Frau ist seit 2004 in der Verfassung verankert. Berichte, dass zig Mädchen im Alter von zehn bis 13 Jahren in einem Dorf in der Westtürkei verheiratet wurden, sorgte auch in der Türkei für Aufregung. „Wie im finsteren Mittelalter“ berichtete etwa die Zeitung „Milliyet“.
Kritik an Menschenrechten
Völlig aus der Luft gegriffen sind die Menschenrechtsverletzungen, die Beschränkung der Meinungsfreiheit und der Minderheitenrechte allerdings auch nicht. 553 Fälle aus der Türkei landeten zwischen Oktober 2009 und November 2010 vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, im Sommer 2010 waren laut einem ESI-Bericht über 2.400 Kinder im Gefängnis. Die Kritik und Aufforderung zu weiteren Reformen ist zulässig, dennoch blieb die Regierung im Bereich der Menschenrechte in den vergangenen Jahren nicht untätig.
Die Todesstrafe wurde 2002 abgeschafft. Die Rechte der Kurden wurden sukzessive ausgeweitet. Im Jänner 2009 etwa startete das türkische Staatsfernsehen den ersten kurdischsprachigen TV-Kanal. Die Macht des Militärs wurde schrittweise beschnitten. Nur leicht adaptiert wurde der umstrittene Strafrechtsparagraf 301, der die „Beleidigung des Türkentums“ unter Strafe stellt. Damit konnte selbst harmloseste Kritik als Straftat verfolgt werden.
Mit einer Reform 2008 wurde das Wort „Türkentum“ durch „türkische Nation“ ausgetauscht. Menschenrechtsorganisationen kritisierten, dass der Kern des Paragrafen dadurch im Kern erhalten bleibe.
Neuer Lebenswandel
„In der Türkei findet eine kulturelle Revolution statt“, so Knaus. Diese finde nicht nur bei den erweiterten Rechten von Frauen statt. In der Türkei gibt es eine starke Europäisierung und Urbanisierung. Während in den 80er Jahren die Türkei mehrheitlich eine ländliche Gesellschaft war, leben heute mehr als zwei Drittel der Türken in Städten.
Türkeiweit macht sich laut Knaus eine Änderung des Lebenswandels bemerkbar: Die Geburtenrate sinkt, das Bildungsniveau steigt, die Scheidungsrate nimmt zu, und die Industrialisierung setzt sich auch in bisher wirtschaftlich rückständigen Gebieten durch. Knaus: „In Zentralanatolien etwa werden nicht mehr nur Schafe gehütet und Teppiche geknüpft, sondern auch für den Weltmarkt produziert.“
„Gleichzeitig entwickelt sich aber auch in Europa eine tiefgreifende Veränderung, wo Türken und Muslime als wichtiger Teil unserer Gesellschaft bezeichnet werden“, erklärt Knaus. Er ist überzeugt, dass die Aussage des deutschen Präsidenten Christian Wulff vor wenigen Wochen - „Der Islam gehört zu Deutschland“ - vor fünf Jahren noch nicht möglich gewesen wäre.
Simone Leonhartsberger, ORF.at
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