Zustimmung zur EU sinkt in Türkei
Fünf Jahre nach dem Beginn der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei ist das Zeugnis der EU Anfang November ernüchternd ausgefallen. Die Kommission attestierte dem Land gravierende Defizite bei Grundrechten wie der Meinungsfreiheit und den Rechten von Frauen und Minderheiten wie den Kurden. „Ehrenmorde, Zwangsheiraten und häusliche Gewalt bleiben ernsthafte Probleme“, heißt es in dem Bericht.
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Die im September beschlossene Verfassungsreform wurde als „Schritt in die richtige Richtung“ bezeichnet. Der 2005 begonnene Verhandlungsprozess stockt aber. Die zögernde Haltung der EU wirkt sich auch negativ auf die Zustimmung innerhalb der Türkei aus.
Nur noch knapp 40 Prozent wünschen sich ihr Land in die EU. Vor dem Beginn der Verhandlungen waren es noch 74 Prozent. „Die negativen Botschaften aus der EU haben das politische Momentum für Reformen in der Türkei gebremst“, kritisiert Sinan Ülgen, Chef des Istanbuler Zentrums für wirtschafts- und außenpolitische Studien (EDAM).
20 Kapitel blockiert
„Die Stimmung in der EU gegenüber einem Türkei-Beitritt hat sich nicht so stark verändert und liegt seit Jahren bei rund 30 Prozent“, sagte Türkei-Experte Gerald Knaus vom Thinktank European Stability Initiative (ESI). Die Gegner eines EU-Beitritts der Türkei - darunter Frankreich, Deutschland, Österreich und die Niederlande - lassen aber nicht locker. In Österreich liegt die Ablehnung eines EU-Beitritts der Türkei bei 69 Prozent - mehr dazu in oesterreich.ORF.at.
Der Streit über Nordzypern, das Nein Frankreichs zum EU-Beitritt und der Wunsch der deutschen Kanzlerin Angela Merkel (CDU) nach einer „strategischen Partnerschaft“ statt einer Vollmitgliedschaft blockieren die Verhandlungen. Von 35 Kapiteln wurden bisher 13 geöffnet, eines abgeschlossen. Nun können noch zwei Kapitel geöffnet werden, denn 20 sind wegen des Zypern-Konflikts und anderen politischen Problemen blockiert.
2014 „technisch reif für Beitritt“
Die Türkei wird allmählich ungeduldig und will eine endgültige Entscheidung der EU für oder gegen die Aufnahme des Landes. Anfang 2014 werde die Türkei, technisch gesehen, reif für den Beitritt sein und deshalb einen „Konsens“ in der EU einfordern, sagte der türkische Europa-Minister Egemen Bagis. Er betonte, dass sich die Türkei auch in den Bereichen um Reformen bemühe, die aus den Verhandlungen bisher ausgeklammert waren.
Die EU erkennt das in ihrem Bericht auch positiv an und lobt Fortschritte in Bereichen, über die noch gar nicht verhandelt wird. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan bemängelt dennoch, dass die Regeln im Zuge der Aufnahmeverhandlungen geändert worden seien und die Türkei diskriminiert werde.
„Scheidung nicht vorgesehen“
Obwohl ein aktueller ESI-Bericht nicht mit einem Abbruch der Verhandlungen rechnet, mehren sich die skeptischen Stimmen, dass die Gespräche in eine Sackgasse münden könnten, wenn es keine Themen mehr zu verhandeln gibt. „Eine Scheidung ist nicht vorgesehen“, schließt ESI einen Abbruch der Gespräche aus und vergleicht die Beziehungen zwischen der Türkei und der EU mit einer katholischen Ehe.
Ankara wolle trotz der Verzögerungstaktik aus der EU nicht auf die Reformimpulse aus Brüssel verzichten. Und die EU könne die Verhandlungen nur im Fall einer „ernsten und anhaltenden Verletzung der Freiheit, Demokratie, Achtung der Menschenrechte, Grundfreiheiten und des Rechtsstaats in der Türkei“ abbrechen. Ein Abbruch vonseiten der Türkei sei daher unwahrscheinlich. Zudem gibt es laut ESI immer etwas zu verhandeln, auch wenn keine neuen Kapitel geöffnet werden können.
Wirtschaftlicher Aufschwung
Wirtschaftlich spricht einiges für die Aufnahme der Türkei. Kämpfte das Land Anfang des neuen Jahrtausends noch mit ökonomischen Schwierigkeiten, konnte es mit Reformen und Krediten des Internationalen Währungsfonds (IWF) wieder stabilisiert werden. Zwischen 2002 und 2008 wuchs das BIP um durchschnittlich sechs Prozent.
Mittlerweile zählt die Türkei zu den 15 größten Volkswirtschaften weltweit. Im ersten Halbjahr 2010 betrug das Wirtschaftswachstum elf Prozent.
„EU braucht Türkei dringender“
Das Selbstbewusstsein der Türkei ist jedenfalls nicht zuletzt aufgrund des wirtschaftlichen Aufschwungs gestiegen. Einige europäische Politiker hätten eingesehen, "dass die EU die Türkei dringender braucht als die Türkei die EU, betonte Bagis vor wenigen Tagen.
Die wirtschaftliche Öffnung ist nicht selbstverständlich. „Noch vor zehn Jahren dominierte in der Türkei der wirtschaftliche Nationalismus und der Widerstand gegen zu viele Auslandsinvestitionen“, erklärte Knaus. Mittlerweile sind die ausländischen Direktinvestitionen stark gestiegen - von einer Milliarde US-Dollar im Jahr 2000 auf 20 Milliarden Dollar 2007.
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