Heftige Debatte über Pläne entbrannt
Mehr als 130 Schiffe und knapp 30 Tanker passieren tagtäglich den Bosporus, die Meerenge, die Europa von Kleinasien trennt. 150 Millionen Tonnen Fracht, davon 100 Millionen Tonnen Öl, werden durch den Kanal transportiert. Istanbul wird durch den Bosporus in zwei Hälften geteilt und stöhnt unter dessen chronischer Überlastung. Ein „zweiter“ Bosporus soll nun die Meerenge entlasten.
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Unabhängig voneinander berichteten die türkischen Zeitungen „Habertürk“ und „Zaman“ von den ehrgeizigen Plänen von Premier Recep Tayyip Erdogan: Er plane ein „verrücktes Projekt“ für Istanbul, das „außerhalb der Vorstellungskraft der Menschen“ liege, zitieren sie Erdogan. In den Details zu dem Kanal, der das gefährliche Bosporus-Nadelöhr entlasten soll, unterscheiden sich die Angaben der beiden Medien jedoch.
„Habertürk“ beschreibt einen mehr innerstädtischen Kanal, der das europäische Zentrum Istanbuls zu einer Insel „wie Manhattan“ machen würde. „Zaman“ hingegen weiß von einem geplanten Kanal am westlichen Rand der Stadt zu berichten. Nach Informationen der beiden Zeitungen soll Erdogan bereits Experten der Universität Istanbul eingeschaltet und eine russische Baufirma kontaktiert haben.

Google Earth/ORF.at (Montage)
Der Bosporus teilt Istanbul und verbindet das Schwarze Meer mit dem Marmara-Meer.
Tankerunfälle als Umweltgefahr
Einer der größten Schiffsunfälle auf dem Bosporus passierte im Jahr 1979, als ein rumänisches Schiff mit fast 95.000 Tonnen Öl mit einem griechischen kollidierte, was zum Tod von 43 Crew-Mitgliedern und einem 27 Tage andauernden Feuer führte. Luft und Wasser wurden dabei stark verschmutzt.
Entlasten und Flutgefahr dämmen
Der neue Kanal solle nicht nur den Bosporus entlasten, sondern auch Instanbuls Innenstadt vor den möglichen Gefahren einer Ölkatastrophe oder Flut befreien, berichtet „Zaman“. Der starke Tankerverkehr auf dem Bosporus stelle für die Stadt eine enorme Umweltgefahr dar. Durchschnittlich alle 53 Minuten passiert ein Öltanker die Meeresstraße, die wegen enger Kurven als schwieriges Nadelöhr gilt.
Experten schätzen, dass die Kosten für die Pläne bei etwa acht bis zehn Milliarden Euro liegen werden. Private Investoren sollen das Gros der Kosten tragen und im Gegenzug dafür zeitlich befristete Konzessionen zum Betrieb des Kanals erhalten. Läuft alles nach Plan, könnte der Kanal 2023 fertig sein, rechtzeitig zum Jahrestag der Gründung der Türkischen Republik.
Vereinbar mit Seeregeln?
Unklar ist jedoch, so „Zaman“, ob die Pläne vereinbar sind mit dem Vertrag von Montreux, der die Nutzung des Bosporus regelt. „Die Türkei kann die Meerenge niemals für den internationalen Schiffsverkehr schließen“, sagte Derya Aydin Okur, Rechtsprofessorin an der Marmara-Universität, gegenüber der Zeitung.
Die Türkei könnte aber sehr wohl Maßnahmen ergreifen, die den Verkehr auf den möglicherweise geplanten anderen Kanal umleiten würden. „Die Türkei kann die Schiffe nicht dazu zwingen, einen anderen Kanal zu verwenden.“ Man könnte jedoch Anreize dafür schaffen, indem zum Beispiel das kostenlose Passieren des Bosporus-Kanals eine zweitägige Wartezeit voraussetzt, wohingegen das kostenpflichtige Passieren der neuen Strecke sofort möglich sein soll, sagte Rechtsexperte Yücel Acer.
Zweifel an Sinnhaftigkeit
Kritik an den kolportierten Plänen, für die es von Erdogan selbst oder seiner Regierung bisher keine offizielle Bestätigung gibt, kommt auch von türkischen Architekten: Murat Cemal Yalcintan, Städteplaner an der Mimar Sinan Fine Arts University, sagte gegenüber „Zaman“, dass das Projekt nicht der beste Weg sei, um die Stadt vor Überflutungen zu schützen. Das sei nur ein Vorwand, da man mit dem Projekt „eigentlich danach strebt, den Wert der Region zu erhöhen, die im Vergleich zu anderen Teilen Istanbuls relativ wenig entwickelt ist“. Das Projekt klammere menschliche Faktoren völlig aus.
Tayfun Kahraman von der Turkish Union of Engineers’ and Architects’ Chambers (TMMOB) ist der Ansicht, dass Erdogans Pläne nicht mit dem derzeitigen Städteplan Istanbuls vereinbar sind. Sie seien weit davon entfernt, realistisch zu sein. Seine zwei Hauptkritikpunkte sind, dass die notwendigen Gelder viel sinnvoller investiert werden könnten, und die Abholzung aufgrund der nötigen Umsiedelungen. In der Regierung Erdogan sieht man das offenbar anders: Das Projekt stärke die Umwelt und fördere die Artenvielfalt, sagte ein Mitglied der parlamentarischen Umweltkommission laut „Zaman“.
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