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Aufregung über Kriegsprotokolle

In Israel wogt seit Tagen eine zunehmend heftiger werdende Debatte über den 1981 verstorbenen Kriegshelden und Verteidigungsminister Mosche Dajan. Der Mann mit der Augenklappe ist eine der legendärsten Figuren des zionistischen Staates.

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Der politische Ziehsohn von Staatsgründer David Ben-Gurion hatte zentralen Anteil am Erfolg im Unabhängigkeitskrieg, war Oberbefehlshaber in der Sues-Krise 1956 und beaufsichtigte persönlich die Eroberung Ostjerusalems im Sechstagekrieg 1967. Am Montag und Mittwoch erstmals veröffentlichte Protokolle der Krisensitzungen der israelischen Regierungs- und Militärspitze unmittelbar vor und nach Beginn des Jom-Kippur-Kriegs am 6. Oktober 1973 werfen neue Zweifel an der Rolle des damaligen Verteidigungsministers auf.

Nationales Trauma

Jedes Jahr sind Israels Medien rund um den Jahrestag des vierten arabisch-israelischen Kriegs voller - meist kritischer - Berichte über die zum nationalen Trauma gewordenen schweren Versäumnisse der Geheimdienste und der Führungsspitze, die den ägyptisch-syrischen Überraschungsangriff ermöglicht hatten.

Angriff am höchsten Feiertag

Der Jom-Kippur-Krieg begann am gleichnamigen jüdischen Feiertag am 6. Oktober 1973 mit einem überraschenden Angriff Ägyptens und Syriens auf dem Sinai und den von Israel besetzten Golanhöhen und endete nur 20 Tage später mit einem Waffenstillstand auf Druck der UNO.

Der herausragende Militärstratege, der in Israel bis heute zu polarisieren vermag, berichtet in einer Krisensitzung der Regierung knapp einen Tag nach Kriegsbeginn, dass eine Reihe von Stellungen entlang des Sinaikanals gefallen seien. „Der Kanal ist verloren“, sagte Dajan, und schlug einen Rückzug auf die Isthmuslinie (rund 30 Kilometer landeinwärts, Anm.) vor.

Das Brisante daran: Ganz offen forderte er dabei, jene verletzten Soldaten, die nicht evakuiert werden können, auf sich allein gestellt zurückzulassen. „Wo wir evakuieren können, werden wir evakuieren. Wo wir nicht evakuieren können, werden wir die Verletzten zurücklassen“, so Dajan. „Diejenigen, die es schaffen, schaffen es. Wenn sie entscheiden, sich zu ergeben, dann sollen sie sich ergeben. Wir müssen ihnen sagen: Wir können euch nicht erreichen. Versucht durchzubrechen oder gebt auf“, heißt es in den Protokollen.

„Sie wollen mit den Juden Schluss machen“

Die als „Top Secret“ eingestuften Protokolle der Sitzungen, die teils im Stundentakt abgehalten wurden, lassen erahnen, wie überrascht und verunsichert die israelische Führung in diesen dramatischen Stunden war. Dajan: „Sie (die Araber, Anm.) wollen das gesamte Land.“ Die damalige israelische Ministerpräsidentin Golda Meir sah Israel ebenfalls existenziell bedroht: „Das ist die zweite Runde nach 1948 (Beginn des Unabhängigkeitskriegs, Anm.).“ Dajan wiederum: „Die Araber werden den Krieg nicht beenden, und wenn sie einem Waffenstillstand zustimmen, könnten sie den Kampf wiederaufnehmen.“ Meir erwiderte: „Sie haben keinen Grund, nicht weiterzumachen. Sie haben Blut geleckt.“ Und Dajan ergänzte: „Um Israel zu erobern, um mit den Juden Schluss zu machen.“

Israelische Soldaten warten auf einem Panzer auf ihren Einsatz

AP

Israelische Truppen in der durch Kämpfe zerstörten ägyptischen Hafenstadt Sues

Golda Meir bereute bereits am zweiten Kriegstag die am Vortag gefällte Entscheidung, auf einen Präventivschlag zu verzichten, und konnte diese selbst kaum noch nachvollziehen: Ihr komme es vor, als sei gestern bereits ein Monat her. Die Lagebesprechungen vor allem an den ersten zwei Tagen vermitteln den Eindruck, dass die Regierungschefin keinen Überblick hatte - an einem Punkt der Debatte gibt sie offen zu, dass sie keine Ahnung von Panzern habe, aber sie wisse, wie Ägypter „ticken“ würden, glitt Meir, angesichts des Ernsts der Lage überraschend, ins rein Klischeehafte ab. Das weitere Vorgehen gegenüber den USA und die internationalen Auswirkungen nahmen teils einen breiteren Raum ein als die Ereignisse an den zwei Fronten. Bei der Lektüre der Protokolle drängt sich der Eindruck auf, dass selbst die Generäle nur sehr eingeschränkt wussten, was sich wirklich im Feld abspielte.

Verteidigungsminister Dajan zeigte sich in einer Sitzung aber auch selbstkritisch. Er sprach von Hunderten israelischen Gefallenen und zahlreichen Kriegsgefangenen und gestand ein, den Gegner unterschätzt zu haben. Zugleich betonte er, es sei jetzt nicht die Zeit für Abrechnungen.

Heftige Reaktion

Eitan Haber, Journalist und enger Weggefährte des 1995 ermordeten Ex-Ministerpräsidenten Jizchak Rabin, reagierte empört. Die Protokolle würden endgültig zeigen, dass Dajan „der letzte Dreck“ gewesen sei. Rabin und Dajan waren langjährige Konkurrenten innerhalb der israelischen Führungsriege. Die Protokolle bestätigen außerdem den damaligen Generalstabschef, David „Dado“ Elasar, und dessen Darstellung der Ereignisse innerhalb der von den arabischen Kriegsvorbereitungen völlig überraschten israelischen Führungsspitze.

Generalmobilmachung abgelehnt

So forderte Elasar wenige Stunden vor dem ägyptisch-syrischen Angriff eine weitreichende Mobilmachung (200.000 Mann) während Dajan die Ansicht vertrat, die Mobilisierung von 50.000 bis 60.000 Mann sei vorerst ausreichend. Außerdem lehnte Dajan Elasars Vorschlag für einen Präventivschlag rundweg ab. Und das, obwohl ein wesentliches Prinzip der israelischen Doktrin stets lautete, im Falle eines drohenden Angriffs von außen diesem mit einem Präventivschlag zuvorzukommen, um den Konflikt nicht auf eigenen Boden, sondern im Feindesgebiet auszutragen.

Israelischer Soldat hisst die israelische Flagge

AP

Israelische Truppen nach Ende des Kriegs am Ostufer des Sueskanals

Meir stellte sich auf die Seite Dajans - vor allem, um nicht als Schuldige dazustehen und damit die USA vor den Kopf zu stoßen. Das führte dazu, dass Washington Israel mit Militärmaterial massiv unterstützte - eine Voraussetzung dafür, dass der Krieg zwar psychologisch das Unbesiegbarkeitsimage Israels zerstörte, militärisch aber mit einem Erfolg für Israel endete.

„Immer die Wahrheit gewusst“

Elasars Sohn, der kürzlich einen Film drehte, um die Rolle seines Vaters zu verteidigen, betonte, das israelische Volk habe „immer die Wahrheit gewusst“. Die Protokolle seien „aufregend“, weil sie „das Gefühl vermitteln, im Besprechungsraum mittendrin zu sitzen“, sagte Jair Elasar gegenüber der Tageszeitung „Jedioth Ahronoth“, die die Dokumente veröffentlichte. Auch Dajans Tochter, Jael Dajan, verteidigte ihren Vater gegen die Kritik. Allein sein Name provoziere bereits Kritik, „meist ohne Beziehung zur Wahrheit“.

Elasar wurde nach dem Krieg von einer Untersuchungskommission die Hauptverantwortung für die schweren Pannen im Vorfeld des Angriffs der arabischen Nachbarn angelastet. Er starb nur drei Jahre nach Kriegsende. Die politische Führung rund um die Regierungschefin Meir und Verteidigungsminister Dajan wurde dagegen von jeder Verantwortung „freigesprochen“. Die Ergebnisse der Untersuchungskommission halfen aber nicht, den weitverbreiteten Zorn in der Bevölkerung über die Regierung zu beschwichtigen, im Gegenteil: Nur neun Tage nach Veröffentlichung des Endberichts trat Regierungschefin Golda Meir am 11. April 1974 gemeinsam mit der ganzen Regierung - inklusive Dajan - zurück.

Guido Tiefenthaler, ORF.at

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