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„Jugendliche zusammenprügeln“

Nach Zusammenstößen bei Protesten gegen das Bahn-Großprojekt Stuttgart 21 müssen sich die Behörden im deutschen Bundesland Baden-Württemberg scharfe Kritik gefallen lassen. Der Bundesparteivorsitzende der deutschen Grünen, Cem Özdemir, machte die Landesregierung für die Eskalation der Gewalt am Donnerstag verantwortlich.

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Zahlreiche Kundgebungsteilnehmer, darunter auch Schüler, wurden verletzt, als die Polizei mit Pfefferspray, Tränengas und Wasserwerfern gegen Demonstranten vorging. Baden-Württembergs Innenminister Heribert Rech (CDU) habe „auf skandalöse Weise ältere Damen, Jugendliche, die friedlich demonstrieren, und Mütter zusammenprügeln“ lassen, sagte Özdemir im „Morgenmagazin“ der ARD. „Ich appelliere an die Landesregierung, zurückzukehren zu vernünftigen Umgangsformen.“

Organisatoren der Kundgebung, darunter Matthias von Hermann von der „Initiative Parkschützer“, machten die Polizei für die Eskalation verantwortlich: „Es gab Schläge ins Gesicht und an die 400 Augenverletzungen durch Tränengas.“ Von der Politik würden die Gegner von Stuttgart 21 „kriminalisiert“.

Ministerin: „Kinder vorgeschoben“

Baden-Württembergs Verkehrsministerin Tanja Gönner (CDU) kritisierte hingegen das Vorgehen der Demonstranten. Man werde „nachdenklich, wenn man Baustellen für Zukunftsprojekte derartig absichern“ müsse, erklärte sie im „Deutschlandfunk“. Gönner deutete an, dass Demonstranten Kinder „bewusst nach vorne geschoben“ hätten. „Ich bin mir nicht sicher, ob man das als friedlich bezeichnen kann.“ Einen Baustopp schloss Gönner erneut aus.

Özdemir dagegen erklärte, das Projekt sei der Bahn durch die Politik „aufs Auge gedrückt“ worden. „Kompliment an alle, die sagen, Irrsinn muss man verhindern.“

Zahlreiche Verletzte

Bei der Räumung des Schlossgartens am Donnerstagnachmittag waren zahlreiche Demonstranten verletzt worden, einer davon erlitt durch einen Wasserwerfer eine schwere Augenverletzung. Über 400 Kundgebungsteilnehmer erlitten Augenreizungen durch Tränengas, wiederum andere Platzwunden und andere Blessuren, teilte das Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 mit.

Polizisten halten Demonstranten gegen Stuttgart 21 fest

APA/EPA/Uwe Anspach

Polizei geht gegen Jugendliche vor.

Die Polizei berichtete wiederum von Gewalt durch Kundgebungsteilnehmer: „Es sind Steine geflogen.“ Für Kritik sorgte vor allem, dass die Polizei offenbar auch gegen Schüler, die an einer angemeldeten Demonstration teilgenommen hatten, vorging.

Merkel besorgt

Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel (CDU) zeigte sich besorgt über die Gewalt bei den Protesten gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21. „Ich wünsche mir, dass solche Demonstrationen friedlich verlaufen. Das muss immer versucht werden, und alles muss vermieden werden, was zu Gewalt führen kann,“ sagte Merkel in einem Interview mit dem SWR. Die Kanzlerin verteidigte das Bahnprojekt erneut als sinnvoll und richtig.

Heftiger Widerstand gegen Mammutprojekt

Gegen Stuttgart 21 gibt es seit Wochen heftigen Widerstand aus der Bevölkerung. Der bisherige Stuttgarter Kopfbahnhof soll während der insgesamt zehnjährigen Bauzeit durch eine Verlegung in den Untergrund zu einer Durchgangsstation mit Schnellbahnverbindung nach Ulm gemacht werden. Die Gegner warnen vor hohen Kosten, ökologischen Folgen und angeblichen Sicherheitsgefahren durch das Bauprojekt.

„Das habe ich seit ’68 nicht erlebt“

Die frühere Landesvorsitzende der Gewerkschaft Verdi, Sybille Stamm, berichtete von massivem Gewalteinsatz bei der Auflösung von Blockaden. Sie habe neben Demonstranten gestanden, die sich an einen Zaun gekettet hatten, und sei ohne Vorankündigung von Polizisten zu Boden geworfen, getreten und mit Tränengas besprüht worden. „Das habe ich seit ’68 nicht erlebt.“

Innenminister verteidigt Polizeieinsatz

Baden-Württembergs Innenminister Rech verteidigte den massiven Polizeieinsatz. Es sei bedauerlich, dass es zum Einsatz von Wasserwerfern gekommen sei. Aber, so betonte er im ZDF-„heute journal“: „Im äußersten Notfall sind auch Wasserwerfer erforderlich.“

Bäume müssen weichen

Das Projekt Stuttgart 21 sieht den Umbau des Kopfbahnhofs in eine unterirdische Durchgangsstation und deren Anbindung an die geplante ICE-Neubaustrecke nach Ulm vor. Die Bahn rechnet mit Gesamtkosten von sieben Milliarden Euro. Kritiker rechnen mit einer Kostensteigerung auf bis zu 18,7 Milliarden Euro.

Arbeiter fällen Bäume

Reuters/Michael Dalder

Die erste Bäume wurden Freitagfrüh gefällt.

Insgesamt müssen dem Bahnprojekt voraussichtlich 282 Bäume weichen. Dabei sollen auch Bäume versetzt werden. Die Deutsche Bahn ist verpflichtet, nach Abschluss der Bauarbeiten 293 Bäume nachzupflanzen.

Erneut lautstarke Proteste

Freitagfrüh fielen, begleitet von lautstarken Protesten, die ersten Bäume. Mehrere tausend Demonstranten machten erneut stundenlang mit Trillerpfeifen und Sprechchören ihrem Unmut Luft. Rund 1.000 Polizisten sperrten das Areal hinter einem Zaun ab, und die Arbeiten begannen planmäßig.

Gegen 1.00 Uhr rollten Bagger mit Sägen hinter den Kordon aus behelmten Polizisten und fällten und schredderten anschließend innerhalb kürzester Zeit einen Gutteil der rund 25 Bäume, die zunächst fallen sollen. Anders als am Donnerstagnachmittag kam es nicht zu einer offenen Eskalation der Gewalt, allerdings warfen einige Demonstranten Gegenstände und Farbbeutel in Richtung der Arbeiter und Beamten. Die Projektgegner kündigten an, sie wollten weiter Widerstand leisten und ab jetzt zu wöchentlichen Großkundgebungen aufrufen.

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