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Auf den Boulevards der Reue

Thomas Pynchon eilt der Ruf voraus, besonders sperrige Bücher zu schreiben. Erst kürzlich hatte er das mit seinem 1.600 Seiten langen, historischen Monumentalepos „Gegen den Tag“ bewiesen. Aber schon in der Vergangenheit wechselten sich bei ihm postmoderne Wälzer mit Büchern ab, die in jedem Sinne leichtgewichtiger waren.

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Der jetzt auf Deutsch erschienene Kifferkrimi „Natürliche Mängel“ ist jedenfalls der definitive Volks-Pynchon, geschrieben für alle, die schon immer einmal ein Buch des mysteriösen Meisters lesen wollten, sich aber nicht drübertrauten.

„Bullenseliges“ Krimi-TV

Docs (und damit Pynchons) Liebeserklärung an Privatdetektive: „Früher gab’s diese ganzen tollen alten Privatdetektive - Philip Marlowe, Sam Spade, Johnny Staccato, der Schnüffler aller Schnüffler, immer schlauer und professioneller als die Cops, und immer klären sie am Ende das Verbrechen auf, während die Cops falschen Spuren folgen und blöd im Weg rumstehen. (...) aber heute sieht man bloß noch Cops, die Glotze ist randvoll mit scheiß Copfilmen, alles Pfundskerle, die nur ihren Job machen wollen, und die Freiheit von irgendwem bedrohen tun sie genauso wenig wie irgendein Dad in einer Sitcom. Klar doch. Die Zuschauer werden davon so bullenselig, dass sie geradezu darum betteln, eingelocht zu werden. Lebwohl, Johnny Staccato, willkommen Steve McGarrett, und wo du gerade dabei bist, tritt mir doch bitte die Tür ein.“

Die Handlung ist nichtsdestotrotz recht komplex. Der Privatdetektiv Doc recherchiert im Fall eines plötzlich verschwundenen Bauunternehmers und gerät dabei selbst unter Mordverdacht. Bei seinen Ermittlungen vertieft er sich in Verstrickungen eines geheimen Netzwerks, das sich rund um ein mysteriöses Schiff gebildet hat. Lange bleibt unklar, ob hier mit harten Drogen gedealt, Falschgeld verbreitet oder eine Geheimdienstmauschelei der Regierung gedeckt wird. Involviert sind die Polizei, eine Rockerbande, einige Zahnärzte, Casinobetreiber und eine abgehalfterte Surfrockband.

Das alles spielt sich Anfang der 70er Jahre ab. Die Hochblüte der Hippies ist gerade vorbei, auch wenn sehr viele in L. A., allen voran Doc, das nicht wahrhaben wollen. Er raucht manchmal Mentholzigaretten, meistens aber Joints. Je nachdem, wie zugedröhnt er gerade ist, erlebt man ihn entweder naiv und kindlich oder wachsam und zynisch - ein Zynismus, der nie in Bösartigkeit ausartet. Pynchon schreibt vom Stil her wie ein Autor althergebrachter Detektivkrimis, nur dass er das macho-männliche „Private Eye“ gegen einen langhaarigen Kiffer austauscht.

Perle auf dem Boden des Spätkapitalismus

Das ändert nichts an den coolen Sprüchen, auf die auch hier nicht verzichtet wird. Pynchon ähnelt zwar im Tonfall den amerikanischen Ur-Krimiautoren, der Inhalt von „Natürliche Mängel“ ist aber ein gänzlich anderer. Die Kalauer gehen bei ihm auf Kosten der korrupten Polizei, des Kapitalismus und der konservativen Nixon-Regierung. Und die Frauen haben die Sprüche nicht weniger drauf als die Männer. Zum Beispiel Jade:

„Ich kann euch nur raten, Jungs, passt auf, wo ihr hintretet, denn ich, ich bin so was wie eine kleine Perle des Orients, die auf dem Boden des Spätkapitalismus herumkullert - ab und zu treten vielleicht miese Typen aller Einkommenssschichten auf mich drauf, aber wenn, dann sind sie es, die ausrutschen, auf die Schnauze fallen und sich an einem guten Tag so richtig wehtun, während die Perle selbst einfach weiterkullert.“

Buchcover von "Natürliche Mängel"

roohlt.de

Thomas Pynchon: Natürliche Mängel. Rowohlt, 480 Seiten, 25,70 Euro

Pynchon erweist der 60er-Jahre und 70er-Jahre-Kultur seine Referenz. Dabei weiß er, was seine Leser heute, in der Retrospektive, als kultig erachten. Das fängt bei Fernsehserien wie „Raumschiff Enterprise“ an und hört bei den Bauten von Buckminster Fuller nicht auf. Pink Floyd, The Doors und Iron Butterfly finden Erwähnung, alle möglichen Surfrockbands sowieso, deren Musik so beschrieben wird: „Musiklehreralptraum aus oktavierten Bluesphrasen, schwachsinnigen, aus nur einem Akkord bestehenden ‚Melodien‘ und verzweifelten Vokaleffekten von Anfang bis Ende“. Abseits davon kann nur dringend empfohlen werden, jene Acts aus dem Buch nachzurecherchieren, die man heute nicht mehr kennt, etwa den Entertainer Tiny Tim.

Lochkartencomputer von IBM sind im Einsatz, und recherchiert wird im ARPAnet, dem Vorgänger des Internets: „Er geht im ARPAnet auf Trip, und ich schwör’ dir, das ist wie bei Acid, eine komplett andere, fremde Welt - Zeit, Raum, der ganze Scheiß.“ Wichtig sind auch die Mode (Glockenhosen) und die Autos, etwa ein 289er Mustang mit einer Innenausstattung in schwarzem Vinyl.

Lesen als literarisches Passiv-Kiffen

Situationskomik und immer wieder spannungsgeladene Passagen lassen darüber hinwegsehen, dass es Pynchon natürlich nicht gelingt, ein Buch mit einfach nachzuvollziehender Handlung zu schreiben. Mitunter ist man sich nicht sicher, ob einem literarisches Passiv-Kiffen den Blick vernebelt oder ob das aufgefahrene Personal des Romans tatsächlich zu umfangreich wird, um allen Wendungen der Story folgen zu können. Das ist aber auch gar nicht so wichtig, schließlich wird man auf jeder zweiten Seite mit Zitaten wie diesem Plädoyer gegen allzu viel schlechtes Gewissen entschädigt:

„Als jemand, der diese spezielle Ausfahrt schon mal genommen hat“, riet ihm Hope, „kann ich Ihnen sagen, dass man die Boulevards der Reue nur ein Stück weit entlangfahren kann, und dann muss man wieder rauf auf den Freeway.“

Simon Hadler, ORF.at

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