Ewig menschlich österreichisch
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Theaterarbeiten Franz Grillparzers Teil eines ganz großen „Sportstücks“: Mit ihm sollte so etwas wie die genuin österreichische Identität eingeübt und auch eine Abgrenzung zu Deutschland gefunden werden. Zentraler Ort dieser heimatlichen Klassikeraneignung: das Burgtheater.
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Pikanterweise griff man für die ersten Nachkriegsproduktionen des Burgtheaters (das vorerst seine Heimat ja im Ronacher gefunden hatte) im Fall von Grillparzer freimütig auf Produktionen der Nazi-Zeit zurück. Die „Sappho“, die die Nachkriegsära des Burgtheaters am 30. April 1945 eröffnete, beruhte auf einer Inszenierung aus dem Jahr 1942, und auch die „Ahnfrau“ aus der Grillparzer-Woche 1941 wanderte unverändert ins Repertoire der Nachkriegs-Burg.
Grillparzer: Zeuge gegen die Barbarei
Außerhalb von Nazi-Deutschland, etwa auf den Brettern des Zürcher Schauspielhauses (bedingt auch durch die Arbeit emigrierter deutscher und österreichischer Schauspieler) zelebrierte man Grillparzer als Gewährsmann gegen „Barbarei und Finsternis“ (wie es im „Tagesanzeiger“ 1939 hieß).
In Österreich zwängte man Grillparzer rasch in ein neues Korsett, so die Theaterwissenschaftlerin Evelyn Deutsch-Schreiner: „Grillparzer wurde in die Herstellung einer neuen österreichischen Identität eingespannt. Er wurde als kostbarer Besitz gehandelt, ihm wurden Harmoniestreben, Gefühlstiefe und das Bewahren ‚ewig menschlicher Werte‘ zugeschrieben. Das waren auch die Eigenschaften, die die Österreich-Ideologie dem österreichischen Menschen als besonderes Wesensmerkmal“ zudachte.
Die „österreichisch-nationale Besinnung“
Der Wiedereröffnung des Burgtheaters 1955 ging ja ein Kulturkampf von beinahe Thomas-Bernhard’scher Dimension voraus. Wollte der damalige Direktor Alfred Rott das Haus am Ring mit Goethes Freiheitsdrama „Egmont“ eröffnen, dekretierte die konservative Presse lautstark, dass nur der größte österreichische Autor ein würdiger Autor für die Wiedereröffnung sein könne: „Die Entwicklung der weltpolitischen Lage erlaubt es Österreich nicht, eine Gelegenheit zu versäumen, wie sie ihm der Eröffnungsabend des Burgtheaters bietet“, stand im „Neuen Österreich“ am 13.2.1955 zu lesen: „Wir brauchen die nationale, die österreichisch-nationale Besinnung.“
Durch die damalige schwarz-rote Regierung ging ein tiefer Riss. War die SPÖ für „Egmont“, knüpfte ÖVP-Unterrichtsminister Heinrich Drimmel sein politisches Schicksal an die Wahl von Grillparzers „König Ottokars Glück und Ende“. Mit „Ottokar“ stehen oder mit ihm „fallen“, war Drimmels politisches Motto. Am Ende musste ein Ministerrat unter Kanzler Julius Raab (ÖVP) einen koalitionär österreichischen Grillparzer-Konsens gegen den Deutschen Goethe herstellen.
Geglättete Texte
Im Jahr 1956 brachte man an der Burg „Die Jüdin von Toledo“ heraus. Die Inszenierung stammte von Ernst Lothar, der 1948 als US-Kulturoffizier nach Wien zurückgekehrt war. Lothar habe im Exil, wie Deutsch-Schreiner befindet, einen „andachtsvollen Kulturbegriff von der Überlegenheit der österreichischen Kultur kultiviert“. Bei der Umsetzung des Stücks über die Liebe zwischen der Jüdin Rahel und dem spanischen König Alfons schwächte Lothar alle Bezüge zur jüdischen Religion und Kultur bis zur Unkenntlichkeit ab.

APA/Georg Hochmuth
Unbeschwerter Umgang mit einem Klassiker: Grillparzers „Jüdin von Toledo“ 2010 an der Burg (im Bild: Yohanna Schwertfeger und Peter Jordan bei den Proben)
Eine „Jüdin von Toledo“, in der das Wort „Jude“ oder „Jüdin“ im Text vermieden wurde, war das Ergebnis. „Der aus ‚rassischen‘ Gründen 1938 ins Exil getriebene Ernst Lothar bediente das politische und mentalitätsmäßige Bedürfnis im Wiederaufbau-Österreich“, so Deutsch-Schreiner.
Grillparzer und die Peymann-Debatte
Die Vereinnahmung Grillparzers für das genuin Österreichische wirkte bis in die 1990er Jahre nach, als der frisch gebackene Burg-Direktor Claus Peymann nicht nur, wie vielerorts kritisiert, das harmonische Burgtheater-Deutsch missachtete, sondern auch Grillparzer ausgerechnet zu seinem 200. Geburtstag in die Hand eines Ex-DDR-Regisseurs legte: Wolfgang Engel inszenierte 1991 „König Ottokar“ mit Franz Morak in der Hauptrolle. Morak sollte ja über die Jahre zu so etwas wie dem Anführer der österreichischen Burg-Basis gegen den „Piefke“ Peymann werden - und später Österreich als Kulturstaatssekretär der ÖVP-FPÖ-Koalition gegen die EU-Sanktionen verteidigen müssen: Auf dem Sommerfest der Adenauer-Stiftung im Sommer 2000 referierte Morak auf Berliner Boden im Zuge des Symposiums mit dem bezeichnenden Titel „Österreich - der unbekannte Nachbar“.
„Die wienerische Wesensart“, die man 1948 noch an der Ernst-Lothar-Inszenierung von „Des Meeres und der Liebe Wellen“ in der Presse lobte, kippte spätestens in den 1990er Jahren in ihr Gegenteil. Der Grillparzer eines Hans Neuenfels, etwa in der Inszenierung des „Goldenen Vließ’“ 1994 an der Burg, zaubert österreichische Identitätsrequisiten hervor, um sie am Ende in ihr Gegenteil zu verkehren: Das Vlies ist bei Neuenfels eine rot-weiß-rote Fahne, an der Blut klebt, und Medea, dargestellt durch die Wienerin Elisabeth Trissenaar, tötet ihre Kinder im Walzertakt.
Buchhinweis
Evelyn Deutsch-Schreiners Beitrag über Grillparzer und die österreichische Nationaldramaturgie findet sich im Sammelband „Das verschlafene 19. Jahrhundert: Zur deutschen Literatur zwischen Klassik und Moderne“, hrsg. von Hans J. Knobloch und Hartmut Koopmann, Verlag: Könighausen und Neumann.
Neue Sicht auf Grillparzer
Bereits 1990 hatte Thomas Langhoff bei den Salzburger Festspielen mit seiner Interpretation der „Jüdin von Toledo“ (mit Ulrich Mühe und Susanne Lothar in den Rollen des ungleichen Liebespaares) so etwas wie die Wende der Grillparzer-Rezeption auf der österreichischen Bühne eingeleitet. Die Handlung verlegte er aus dem 12. Jahrhundert in die späte Zeit Grillparzers. Den zeithistorischen Bogen spannte Langhoff vom Josefinismus, über Restauration bis hin zum Faschismus und der Judenverfolgung. Es sind aber die inneren Zerreißproben, die Langhoff wie viele Regisseure nach ihm an Grillparzer interessieren. Hier steht ein Autor, der sich mit klassischen Werkzeugen an genuin modernen Themen abarbeitet: verdrängten Konflikten, Enttäuschungen und Neurosen - und nicht zuletzt den Geschlechterrollen.
Theatertipp:
Grillparzers „Jüdin von Toledo“ ist ab 11. September 2010 am Wiener Burgtheater in der Inszenierung von Stephan Kimmig zu sehen.
„Das große politische Statement interessiert nicht mehr“, hielt Regisseur Martin Kusej, der 1992 mit seiner Inszenierung von „Der Traum ein Leben“ seinen internationalen Durchbruch feierte, 1999 gegenüber dem „Falter“ fest: „Es kann eigentlich nur um das Individuum gehen - ein Individuum, das schleichend am Status quo verzweifelt.“ Möglicherweise wird genau dieser Zugang die Auseinandersetzung um die Liebe zwischen König Alfons und der Rahel 2010 an der Burg prägen. Man darf gespannt sein.
Gerald Heidegger, ORF.at
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